Euromaidan

Als ein verspäteter Herbst 1989 wurden die Ereignisse in Kiew und anderswo verschiedentlich bezeichnet. Ein Sammelband aus dem Suhrkamp Verlag hält nun wesentliche Züge der Ereignisse für die Nachwelt fest.

Zu den besonderen Merkwürdigkeiten des öffentlichen Diskurses über die Ukraine in Deutschland gehört der Umstand, dass dabei kaum Ukrainer zu Wort kommen. Wer Debattenbeiträge in Zeitungen und Magazinen verfolgt, wer eine der zahlreichen Talkshows zum Thema einschaltet, wird dort immer mehr oder minder sachkundige Menschen aus Deutschland und aus Russland finden – Ukrainer aber tauchen kaum jemals auf. Das ist nicht nur einfach merkwürdig, es ist im Grunde empörend und bereits symptomatisch für die deutsche Befassung mit der jüngsten ukrainischen Revolution.

Dankenswerterweise ist diese Ausgrenzung der Betroffenen, das Über-ihre-Köpfe-hinweg-Urteilen mit dem Erscheinen des Buches Euromaidan im Suhrkamp-Verlag nun zu Ende: Hier bekommen Ukrainer endlich eine Stimme. Es sind hauptsächlich Vertreter der jungen Generation unter 40, aus der Kunst- und Literaturszene des Landes zumeist, die selbst auf dem Maidan den Winter verbracht, die aufbegehrt, die gelitten, die schließlich gekämpft, um erschossene Freunde geweint, zwischenzeitlich die Welt nicht mehr verstanden und dennoch durchgehalten und niemals die Hoffnung verloren haben.

Das Buch wurde unter dem Lektorat der Doyenne der deutschen Osteuropa-Literatur, Katharina Raabe, herausgegeben und entstand in den Monaten Februar und März, also genau zu jener Zeit, als die Lage erst auf dem Kiewer Maidan, dann auf der Krim eskalierte. Katharina Raabe führt dazu in ihrem Nachwort aus: „Der thematische Fokus hat sich während der Entstehung des Buches mehr und mehr auf Russland verschoben. Der Aufstand im Nachbarland bedeutet eine elementare Bedrohung der Herrschaftsform Putins, und die Kremlpropaganda tut alles, um die Revolution in Kiew als faschistischen Putsch zu verunglimpfen.“ Dass sie das nicht war, weiß die Welt spätestens seit den ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai. Die Kandidaten von Svoboda und Rechter Sektor – jener beiden Parteien also, vor deren Wirken uns das halbe intellektuelle Europa seit fünf Monaten in direkter Übernahme der Putin’schen Propaganda warnt – kamen zusammen auf etwas mehr als lächerliche 2%. Gut, es handelte sich hier um Präsidentschaftswahlen und bei denen werden einzelne Kandidaten gewählt. Bei den angekündigten Parlamentswahlen werden beide Parteien vermutlich einige Stimmen mehr bekommen. Aber auch das wäre noch lange kein ausreichender Grund, die ukrainische Protestbewegung als rechtsradikal zu diffamieren; nach einem faschistischen Aufstand riecht hier gar nichts.

„Euromaidan“ – das war zunächst die von Mustafa Najem initiierte, relativ kleine und junge Demonstrantenschar, die auf dem zentralen Platz in Kiew dagegen aufbegehrte, dass der damalige ukrainische Präsident Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der EU nun doch nicht unterzeichnen wollte. Das damit ausgedrückte Signal zum „weiter wie bisher“ – mit all seiner mangelnden Rechtsstaatlichkeit, seiner Korruption, seiner Perspektiv- und Zukunftslosigkeit für das große europäische Land – war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Ich gehe auf den Maidan. Wer kommt mit?“, schrieb der junge ukrainische Journalist im November 2013 auf Facebook und einige Hundert folgten seinem Beispiel. Aus der kleinen, aber hartnäckigen Bewegung, die sich vornahm, so lange auf dem Maidan zu bleiben, bis das Regime sich zu einer Reaktion genötigt sieht, wurde nach den wiederholten, brutalen Versuchen der Sicherheitskräfte, den Platz zu räumen, schließlich und völlig unverhofft eine landesweite Protestbewegung, an der zu den Hochzeiten mehr als 1 Million Ukrainer teilnahmen. Nicht nur auf dem Kiewer Maidan – auch von West bis Ost, von Nord bis Süd: überall in der Ukraine versammelten sich Menschen aller Schichten und jeden Alters auf den Plätzen ihrer Stadt. Mittelpunkt des Geschehens blieb natürlich trotzdem Kiew. Und rund um den Kiewer Maidan kam es zwischen dem 18. und dem 20. Februar auch zu jenen dutzendfachen, gezielten Morden durch Scharfschützen, die die Welt erschütterten.

Die einzelnen im Euromaidan-Buch versammelten Beiträge berichten von den äußeren Geschehnissen, erläutern die fatalen politischen Strukturen in einem korrupten, post-sowjetischen Staat und geben nicht zuletzt auch einen Einblick in die verwundeten, aber nicht zerstörten, sondern an Herausforderungen und Leid gereiften Seelen der Autorinnen und Autoren. Zwei der Texte seien hier besonders hervorgehoben:

Jurko Prochasko, Germanist, Essayist und ausgebildeter Gruppenanalytiker, setzt sich unter anderem – ohne Wut, aber in umso treffenderer Analyse – mit der abwartenden, ambivalenten, bisweilen aber auch ablehnenden und absurden Haltung der Europäer und insbesondere der Deutschen zur jüngsten ukrainischen Revolution auseinander. Er schreibt: „Zusammengefasst lauten die Behauptungen wie folgt: Die Revolution kam nicht aus dem spontanen inneren Impuls der ukrainischen Bürgergesellschaft, sondern wurde von außen finanziert und gesteuert. ‚Außen’ – das ist ‚der Westen’, konkret: ‚die USA’. Diese Hypothese steht in einer alten Tradition und reproduziert verdrängte eigene koloniale Reflexe. Antiamerikanismus liiert sich mit schlecht versteckter Arroganz: Länder wie die Ukraine sind nicht in der Lage, etwas Eigenes hervorzubringen, weder einen Staat noch eine vernünftige Politik, noch eine solide Wirtschaft, nicht einmal eine akzeptable Revolution. Wenn es dennoch passiert, waren ‚richtige Mächte, richtige Mächtige’ (also auch wir) am Werk. (…) Das erklärt die Bereitschaft, sich mit den schlimmsten Thesen der antiukrainischen, konterrevolutionären russischen Staatspropaganda zu identifizieren. Alles Ukrainische als plump, unfähig, elend und grotesk, bestenfalls mitleiderregend darzustellen hat eine lange russisch-imperiale Tradition, die sich offenbar blendend in den Kanon der postimperialen europäischen Vorurteile übersetzen lässt.“

Kateryna Mishchenko, freie Autorin, Übersetzerin und bis vor Kurzem Herausgeberin des ukrainischen Kulturmagazins Prostory, berichtet über die Versuche des alten Regimes, den Maidan zu diskreditieren: „Nach Janukowytschs Flucht wurde der Plan des Geheimdienstes über die ‚Zersetzung des Euromaidan’ veröffentlicht: Geheimdienstagenten sollten in alle politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen eindringen, die den Maidan stützten – Swoboda, UDAR, Batkiwschtschyna, Demokratische Allianz, die Selbstverteidigung des Maidan und verschiedene NGOs. Spione sollten die Aktivisten von der Sinnlosigkeit ihres Protestes überzeugen und dazu bewegen, nach Hause zu gehen, sie sollten vorsichtig die Regierung loben und die Oppositionsparteien der Passivität und Hinterziehung von Spenden für den Maidan bezichtigen. Es gab in dem Plan auch einen gesonderten Punkt zu mobilen Einsatzgruppen, die Schlägereien provozieren sollten (…) Der Geheimdienst organisierte sogar Proteste ‚unzufriedener Kiewer Bürger‘. (…) Das Unheimliche im Großen zeigte sich, als die ukrainische Revolution als faschistischer Putsch bezeichnet wurde. Wenn die Propaganda dermaßen brutal lügt, dass man vor lauter Verzweiflung nur noch schreien kann, zeigt sich der Horror in seiner ganzen Unaussprechlichkeit.“

14 Autorinnen und Autoren sind es, darunter auch eine Russin, ein Pole und drei Osteuropahistoriker (aus Österreich, Deutschland und den USA), die in dem Buch „von einem Land im Umbruch, vom Aufruhr in den Seelen – und von einer historischen Chance für Europa“ erzählen, wie es treffend auf dem Buchrücken heißt.

Es bleibt zu hoffen, dass die Ukraine nach den erfolgreichen Präsidentschaftswahlen in der näheren Zukunft zur Ruhe kommen und sich den mannigfaltigen Aufgaben widmen kann, die noch vor ihr liegen. Der Euromaidan jedenfalls macht Mut. Und er lässt mit seinem überwältigenden demokratischen und einigenden Erfolg auch hoffen, dass es dem Aggressor in Moskau nicht gelingen wird, das Land weiterhin zu destabilisieren.

Alles Gute, liebe Ukrainer, lasst euch nie wieder entmutigen – Slawa Ukrajini!

Juri Andruchowytsch (Hg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. edition suhrkamp, Mai 2014. 207 Seiten, ISBN 978-3-518-06072-8, 14,00 Euro.

Gekürzte Version erschienen in der Zeitschrift Info3 – Anthroposophie im Dialog, Ausgabe Juli/August 2014.

Kreml-Notizen (1)

Es gab offenbar ein letztes kleines Zeitfenster – von Ende 1998 bis Ende 1999 -, in dem tatsächlich die Weichen der Weltgeschichte hätten anders gestellt werden können.

Im November des Jahres 1998 tritt Alexander Litwninenko mit weiteren FSB-Offizieren im russischen Fernsehen auf und enthüllt die Korruption und das eiskalte Morden des russischen Geheimdienstes. Eine Sensation. Die Seilschaften sind brüskiert, nervös und erstmals seit ihrer Existenz ins Mark getroffen — und hätte es damals einen breit angelegten öffentlichen Protest gegeben, dem womöglich schlussendlich das Militär beigetreten wäre: Es wäre eine echte Chance gewesen, dem wahnsinnigen Treiben der russischen Macht-Elite ein Ende zu setzen.

Sie wurde nicht ergriffen.

Vier Monate später, im März 1999, hat der Geheimdienst wieder zu seiner Routine zurückgefunden und verhaftet Litwinenko. Noch immer besteht aber die Möglichkeit, den todesmutigen Schritt der Rebellen in eine fundamentale Änderung der russischen Politik zu überführen. Der Strafprozess beginnt; der Richter spricht Litwinenko schließlich im November frei (das waren noch Zeiten; heute unvorstellbar!). Noch im Gerichtssaal wird er wiederum verhaftet, weil der Geheimdienst den Freispruch nicht akzeptiert. Die letzte Chance für die Bevölkerung, durch Massenproteste etwas zu verändern. Sie wird wieder nicht ergriffen. Das ist das Signal für das ehemalige KGB-Geflecht, dass die unumschränkte Macht wiederhergestellt ist.

Liwinenko wird kurze Zeit inhaftiert, dann freigelassen. „Wir töten dich ohnehin“, wird ihm beschieden. Die Verhaftung richtete sich nicht gegen ihn, sondern war bereits, ganz der Tradition verpflichtet, eine Warnung an alle anderen, die nun dabei zusehen können, wie es einem „Verräter“ ergeht.

Litwinenko flieht 2000 – ein weiterer Prozess wurde anberaumt – nach London. Dort widmet er sich in den Jahren, die ihm bleiben, der Kommentierung der Kreml-Politik (u.a. der Vergiftung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko) und der Recherche bezüglich der inszenierten Tschetschenienkriege des Kreml. Er befreundet sich mit Anna Politkowskaja, die als kritische Journalistin der Novaya Gazeta in Moskau ebenfalls an diesem Thema arbeitet. Der auch nach London geflohene Oligarch Beresowski unterstützt beide.

Anna Politkowskaja untersucht die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater anno 2002. Anfänglich kritisiert sie nur die Methodik der „Befreiung“, bei der 129 Geiseln starben und offenbar alle Geiselnehmer per Kopfschuss hingerichtet wurden, obwohl sie betäubt und wehrlos waren. Irgendwann findet sie heraus, dass einer der Geiselnehmer das Theater verlassen konnte und FSB-Agent ist. Und sie publiziert das – in der Erwartung, dass nun ein Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung losbricht.

Er bricht nicht los. Stattdessen wird Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 – es ist Putins 54. Geburtstag – vor dem Lift zu ihrem Appartement erschossen. Sie hatte zuletzt an einem das russische Militär und den geheimdienst kompromittierenden Artikel über Tschetschenien gearbeitet.

Litwinenko – ein KGB-bestätigter Top-„Spürhund“ – beginnt umgehend mit Recherchen zu ihrem Tod. 25 Tage später wird er von einem ehemaligen Kollegen in London mit Polonium-210 vergiftet und stirbt am 23. November. Erst an diesem letzten Tag seines Lebens finden die Ärzte die Polonium-Spur; er hatte keine Chance zu überleben.

Am Abend vor seinem Tod diktiert er seinem Vater einen offenen Brief als Vermächtnis:

„Während ich hier liege, höre ich in aller Deutlichkeit die Flügel des Todesengels. Möglicherweise kann ich ihm noch einmal entkommen, aber ich muss sagen, meine Beine sind nicht so schnell, wie ich es gerne hätte. Ich denke deshalb, dass es an der Zeit ist, ein oder zwei Dinge dem Menschen zu sagen, der für meinen jetzigen Zustand verantwortlich ist. Sie [Putin] werden es vielleicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen, aber dieses Schweigen hat einen Preis. Sie haben sich als so barbarisch und rücksichtslos erwiesen, wie Ihre ärgsten Feinde es behauptet haben. Sie haben gezeigt, dass Sie keine Achtung vor dem Leben, vor der Freiheit oder irgendeinem Wert der Zivilisation haben. Sie haben sich als Ihres Amtes unwürdig erwiesen, als unwürdig des Vertrauens der zivilisierten Männer und Frauen. Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber der Protest aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest des Lebens in Ihren Ohren nachhallen. Möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben, nicht nur mir angetan haben, sondern dem geliebten Russland und seinem Volk.“

Es gibt ein paar Medienberichte und ein bisschen Aufregung, aber alles legt sich schnell wieder. Und es gerät allzu schnell in völlige Vergessenheit.

Als 2013 der Oligarch und Förderer Politkowskajas und Litwinenkos, Boris Beresowksi, überraschend im Alter von 67 Jahren in seinem Londoner Hochsicherheits-Exil stirbt, sind die beiden Morde schon zu lange her. Es kann auch nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob Selbst- oder Fremdverschulden vorliegt. Die Öffentlichkeit schweigt abermals.

Quellen:
Anna Politkowskaja: Russisches Tagebuch
Andrei Nekrasov: Rebellion – The Litvinenko Case

Nachtrag zum perfiden Spiel:

Beresowski starb im März 2013. Im Juli 2013 wurde in Moskau der Mord-Prozess in Sachen Politkowskaja neu aufgerollt. Der angebliche Schütze und seine Mittelsmänner wurden präsentiert. Ein ehemaliger Polizist, der angeblich in den Fal verwickelt sein soll, verwies – ohne jeden Beleg – auf den Auftraggeber im Hintergrund: Boris Beresowski soll für den Mord 2 Millionen Dollar gezahlt haben.

http://tablet.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/Politkowskaja-Mordfall-erneut-vor-Gericht;art16698,7593160