Zur aktuellen Krise im Nahen Osten: Antwort an einen deutschen Freund

Der folgende Brief stammt von einem Autorenkollegen, einem in Deutschland lebenden jüdischen Anthroposophen, der hier einem deutschen Freund antwortet. – F.H.

Lieber G.,

ich danke Dir für Deine Unterstützung und für Deine Sorgen bezüglich der Situation von uns Juden zurzeit hier in Deutschland. Bitte erlaube mir ein paar Gedanken zu formulieren, die einem Juden, der immer versucht hat und versuchen wird, differenziert auf den Nahostkonflikt zu blicken, in diesem Augenblick der Krise durch den Kopf und durchs Gemüt gehen.

Du schreibst mir, dass ich in meiner Stellungnahme zum aktuellen Konflikt in Gaza einseitig bin. Du hast Recht. Ich habe absichtlich die Schuld und die Verbrechen der Hamas und Konsorten hervorgehoben und meine Kritik an der israelischen Politik und den rechten Scharfmachern zurückgehalten.

Warum?

Weil kaum einer von den deutschen, britischen und sonstigen Gutmenschen bei der Presse und am Stammtisch wirklich klar und deutlich ausspricht, wer es ist, der der Verursacher des Blutvergießens ist, wer die Kinder und die Zivilbevölkerung als Geisel missbraucht, wer sie mit eliminatorischem Antisemitismus indoktriniert und zum Töten der „jüdischen Schweine“ dressiert (übrigens: nicht nur die Hamas; im ganzen Schulsystem, auch unter dem Fatah-Regime, werden Judenhass und Lügenpropaganda betrieben).

Israelkritik – egal ob sie von Juden kommt oder von Nicht-Juden – hat nur dann Legitimität, ist nur dann glaubwürdig, wenn man das tut.

Wo gehen Leute auf die Straße, um gegen die Verbrechen der klerikal-faschistischen Islamisten – die Oppositionelle hinrichten, Schwule verfolgen, Frauen unterdrücken, Kinder als lebende Schutzschilder benutzen und Raketen in Schulen lagern und von Krankenhäusern abschießen – zu protestieren? Stattdessen wird Israel angeprangert.

Gestern hieß es in den Vox-Nachrichten, dass im Zuge des Eingreifens der israelischen Armee im Gazastreifen 600 Menschen, hauptsächlich Zivilisten, ermordet (!) wurden. Entlarvende Worte, die den Israelis die Absicht unterschieben, Unschuldige vorsätzlich umzubringen! Diese Stimmung  in Europa spielt dem islamistischen Antisemitismus in die Hände und ist selbst oft von einem halb-verschämten Antisemitismus gespeist. Das fördert zugleich die verstockte Haltung der israelischen Hardliner, aber auch die Resignation vieler kritischer, friedenswilliger Israelis gegenüber dem besserwisserischen Moralisieren von Europäern, die keine Ahnung haben, was es heißt, vor Ort mit der Situation fertig werden zu müssen.

Wenn Berlin, Zürich oder Paris unter fortgesetztem Raketenhagel leben müssten, wenn Berliner, Zürcher oder Pariser umkreist wären von einer Bevölkerung, wo totalitäre Meinungsführer die Oberhand haben, die riefen: Tod den Berlinern, den Zürchern oder den Parisern – was würden diese Berliner, Zürcher oder Pariser sagen, wenn die ausländische Presse schriebe: dann zieht euch doch aus den Gebieten zurück, die ihr besetzt haltet, um euch angeblich zu schützen. Und wenn Ihr schon zuschlagt, dann bitte mit „gebotener Zurückhaltung“.

Problem nur: aus Gaza haben sich die Israelis zurückgezogen. Und was ist das Resultat? Eine ganze Bevölkerung in Geiselhaft einer faschistoiden, islamistischen Bande, die die israelische Bevölkerung unter monate-, wochen-, jahrelangem Raketenhagel hält. Israel hat sich lange zurückgehalten! Und wie bitte soll jene dauernd beschworene „Zurückhaltung“ bei einer akuten militärischen Intervention konkret eigentlich aussehen – angesichts der oben genannten perfiden Methoden einer asymmetrischen Kriegsführung? Das hat mir noch keiner erklären können!

Ich habe also bewusst einseitig geschrieben, weil ich das erwarte, bevor ich bereit bin, über Rücksichtslosigkeiten der Israelis zu sprechen, über Rassismus in Israel, über Großisrael-Ideologien, über schleichende Verrohung, Mangel an Mitgefühl für die Opfer in Gaza bei manchen Israelis und der drohenden Erosion demokratischer Grundwerte. Ich verabscheue Fanatismus, egal von wem er kommt.

Einseitige, propagandistische Parteinahme für Israel seitens bestimmter Gruppen oder Autoren da, wo auch  Kritik an Regierungsentscheidungen angebracht wäre, ist mir oft peinlich und das bloße Schulterzucken über „Kollateralschäden“ halte ich für herzlos, fahrlässig und gefährlich. Aber die Einseitigkeit der meisten Israelkritiker und die Stimmung, die erzeugt wird, veranlassen mich – jedenfalls im Augenblick dieser akuten Krise – bewusst so Stellung zu nehmen, wie ich es tue.

Hamas kämpft einen aussichtslosen Kampf auf dem Schlachtfeld. Das wissen sie. In Wirklichkeit ist es unter anderem ein Propagandakampf, den sie schlau in die westlichen Medien und in die westliche Öffentlichkeit hineintragen, und viele fallen darauf herein. Ziel erreicht!

Als Jude schäme ich mich über Manches, was Juden oder Israelis sagen oder tun. Als Europäer schäme ich mich, wie in Europa über die Gewichtungen in dem Konflikt gesprochen wird. Ein Jude hat immerhin die Ausrede, dass es ihm ums schiere Überleben geht. Als Europäer hat man solche Ausreden nicht. Und so edel es dann klingt, wenn man den Antisemitismus, der sich auf den Straßen der europäischen Hauptstädte zurzeit wieder dreist kundtut, verurteilt: es ist nicht damit getan.

Denn das, was Hamas und andere Islamisten antreibt, ist Antisemitismus – militant, fanatisch, eliminatorisch. Verurteile ich ihn hier, muss ich ihn auch dort verurteilen. Und zwar rückhaltlos und nachhaltig.

Wenn das klar und unmissverständlich getan ist, dann ist es angebracht, Kritik an Versäumnissen oder problematischen Entscheidungen der israelischen Regierungen zu üben,  Bestürzung über einen grassierenden Nationalismus und Rassismus bei einem Teil der israelischen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen usw.

Vielleicht sollten wir alle – Juden und Nicht-Juden, die nicht vor Ort leben, aber den ungeheuren Schaden an Leibern und Seelen aller Menschen dort einigermaßen mitbekommen – im Augenblick am besten eines tun: schweigen und beten. Wenn die Gewichtungen der wirklichen Verhältnisse aber verzerrt dargestellt und unreflektiert weitergegeben werden, wie es der Fall ist, muss man sie zurechtrücken.

Mit freundschaftlichem Gruß
J.