Kreml-Notizen (1)

Es gab offenbar ein letztes kleines Zeitfenster – von Ende 1998 bis Ende 1999 -, in dem tatsächlich die Weichen der Weltgeschichte hätten anders gestellt werden können.

Im November des Jahres 1998 tritt Alexander Litwninenko mit weiteren FSB-Offizieren im russischen Fernsehen auf und enthüllt die Korruption und das eiskalte Morden des russischen Geheimdienstes. Eine Sensation. Die Seilschaften sind brüskiert, nervös und erstmals seit ihrer Existenz ins Mark getroffen — und hätte es damals einen breit angelegten öffentlichen Protest gegeben, dem womöglich schlussendlich das Militär beigetreten wäre: Es wäre eine echte Chance gewesen, dem wahnsinnigen Treiben der russischen Macht-Elite ein Ende zu setzen.

Sie wurde nicht ergriffen.

Vier Monate später, im März 1999, hat der Geheimdienst wieder zu seiner Routine zurückgefunden und verhaftet Litwinenko. Noch immer besteht aber die Möglichkeit, den todesmutigen Schritt der Rebellen in eine fundamentale Änderung der russischen Politik zu überführen. Der Strafprozess beginnt; der Richter spricht Litwinenko schließlich im November frei (das waren noch Zeiten; heute unvorstellbar!). Noch im Gerichtssaal wird er wiederum verhaftet, weil der Geheimdienst den Freispruch nicht akzeptiert. Die letzte Chance für die Bevölkerung, durch Massenproteste etwas zu verändern. Sie wird wieder nicht ergriffen. Das ist das Signal für das ehemalige KGB-Geflecht, dass die unumschränkte Macht wiederhergestellt ist.

Liwinenko wird kurze Zeit inhaftiert, dann freigelassen. „Wir töten dich ohnehin“, wird ihm beschieden. Die Verhaftung richtete sich nicht gegen ihn, sondern war bereits, ganz der Tradition verpflichtet, eine Warnung an alle anderen, die nun dabei zusehen können, wie es einem „Verräter“ ergeht.

Litwinenko flieht 2000 – ein weiterer Prozess wurde anberaumt – nach London. Dort widmet er sich in den Jahren, die ihm bleiben, der Kommentierung der Kreml-Politik (u.a. der Vergiftung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko) und der Recherche bezüglich der inszenierten Tschetschenienkriege des Kreml. Er befreundet sich mit Anna Politkowskaja, die als kritische Journalistin der Novaya Gazeta in Moskau ebenfalls an diesem Thema arbeitet. Der auch nach London geflohene Oligarch Beresowski unterstützt beide.

Anna Politkowskaja untersucht die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater anno 2002. Anfänglich kritisiert sie nur die Methodik der „Befreiung“, bei der 129 Geiseln starben und offenbar alle Geiselnehmer per Kopfschuss hingerichtet wurden, obwohl sie betäubt und wehrlos waren. Irgendwann findet sie heraus, dass einer der Geiselnehmer das Theater verlassen konnte und FSB-Agent ist. Und sie publiziert das – in der Erwartung, dass nun ein Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung losbricht.

Er bricht nicht los. Stattdessen wird Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 – es ist Putins 54. Geburtstag – vor dem Lift zu ihrem Appartement erschossen. Sie hatte zuletzt an einem das russische Militär und den geheimdienst kompromittierenden Artikel über Tschetschenien gearbeitet.

Litwinenko – ein KGB-bestätigter Top-„Spürhund“ – beginnt umgehend mit Recherchen zu ihrem Tod. 25 Tage später wird er von einem ehemaligen Kollegen in London mit Polonium-210 vergiftet und stirbt am 23. November. Erst an diesem letzten Tag seines Lebens finden die Ärzte die Polonium-Spur; er hatte keine Chance zu überleben.

Am Abend vor seinem Tod diktiert er seinem Vater einen offenen Brief als Vermächtnis:

„Während ich hier liege, höre ich in aller Deutlichkeit die Flügel des Todesengels. Möglicherweise kann ich ihm noch einmal entkommen, aber ich muss sagen, meine Beine sind nicht so schnell, wie ich es gerne hätte. Ich denke deshalb, dass es an der Zeit ist, ein oder zwei Dinge dem Menschen zu sagen, der für meinen jetzigen Zustand verantwortlich ist. Sie [Putin] werden es vielleicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen, aber dieses Schweigen hat einen Preis. Sie haben sich als so barbarisch und rücksichtslos erwiesen, wie Ihre ärgsten Feinde es behauptet haben. Sie haben gezeigt, dass Sie keine Achtung vor dem Leben, vor der Freiheit oder irgendeinem Wert der Zivilisation haben. Sie haben sich als Ihres Amtes unwürdig erwiesen, als unwürdig des Vertrauens der zivilisierten Männer und Frauen. Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber der Protest aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest des Lebens in Ihren Ohren nachhallen. Möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben, nicht nur mir angetan haben, sondern dem geliebten Russland und seinem Volk.“

Es gibt ein paar Medienberichte und ein bisschen Aufregung, aber alles legt sich schnell wieder. Und es gerät allzu schnell in völlige Vergessenheit.

Als 2013 der Oligarch und Förderer Politkowskajas und Litwinenkos, Boris Beresowksi, überraschend im Alter von 67 Jahren in seinem Londoner Hochsicherheits-Exil stirbt, sind die beiden Morde schon zu lange her. Es kann auch nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob Selbst- oder Fremdverschulden vorliegt. Die Öffentlichkeit schweigt abermals.

Quellen:
Anna Politkowskaja: Russisches Tagebuch
Andrei Nekrasov: Rebellion – The Litvinenko Case

Nachtrag zum perfiden Spiel:

Beresowski starb im März 2013. Im Juli 2013 wurde in Moskau der Mord-Prozess in Sachen Politkowskaja neu aufgerollt. Der angebliche Schütze und seine Mittelsmänner wurden präsentiert. Ein ehemaliger Polizist, der angeblich in den Fal verwickelt sein soll, verwies – ohne jeden Beleg – auf den Auftraggeber im Hintergrund: Boris Beresowski soll für den Mord 2 Millionen Dollar gezahlt haben.

http://tablet.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/Politkowskaja-Mordfall-erneut-vor-Gericht;art16698,7593160 

Journalismus im Angesicht des russischen Irredentismus‘

Obwohl die deutschen Medien sich zu weiten Teilen eher zurückhaltend, um nicht zu sagen: russlandfreundlich positionieren, hagelt es tausende Zuschriften und Protestbriefe, die die Parteinahme für den Westen und die Unausgewogenheit der Berichterstattung und Diskussion kritisieren.

Ein echtes Problem des Journalismus‘ generell ist, dass es Situationen geben kann (und ich fürchte, dass wir in diesem Fall den Anfang einer solchen beobachten), in denen Medien aus bestem Wissen und Gewissen gegen „das Volk“ anschreiben. Für dieses Problem gibt es meines Wissens nach aber keine echte Lösung. Denn entweder untergräbt man die eigene Existenz oder man untergräbt die eigene Integrität.

Bislang kannte ich das Problem nur theoretisch. Jetzt, wo es ansatzweise praktisch zu werden droht, stelle ich meine grundsätzliche Abneigung gegen Medienkonzerne auf den Prüfstand. Denn letztlich werden sie die einzigen sein, die es eine gewisse Zeit lang durchhalten können, nötigenfalls gegen die eigene Leserschaft anzuschreiben.

GUT und BÖSE – Ein Leitfaden für Orientierungslose und Verwirrte

Stichpunktartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

GUT ist, wenn die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten, um einen Sieg Hitlers zu verhindern. Das ist selbst dann gut, wenn der Kriegseintritt durch eine Finte begründet worden wäre.

GUT ist, wenn die USA in Afghanistan einmarschieren und das mordende Taliban-Regime absetzen.

GUT ist, wenn die „Koalition der Willigen“ in den Irak einmarschiert und das mordende Baath-Regime absetzt. Das ist selbst dann gut, wenn dafür ein Grund von minderem Rang angeführt wird, um ein UNO-Mandat zu bekommen.

GUT ist, wenn die NATO die serbischen Streitkräfte am Völkermord im Kosovo hindert.

GUT ist, wenn die ehemaligen Ostblock-Staaten eine Westanbindung anstreben.

GUT ist, wenn die USA/die EU eine Westanbindung der Ukraine fördern.

——-

NICHT GUT ist, wenn man gegenüber deutlichen Anzeichen aggressiver „Außenpolitik“ eines Staates keine Maßnahmen ergreift (Deutschlands Nachbarn in den Dreißigerjahren / Europa 2014 gegenüber Russland).

NICHT GUT ist, wenn man einen Krieg, den man nicht gewinnen kann, mit immer tödlicheren Mitteln weiterführt (vor allem USA in Vietnam / auch: Sowjetunion in Afghanistan).

NICHT GUT ist, wenn trotz weltweit hochgerüsteter Armeen niemand den Tutsi (und oppositionellen Hutu) in Ruanda zu Hilfe kommt.

NICHT GUT ist, wenn man Syriens Präsident Assad ungestört seine eigene Bevölkerung abschlachten lässt.

NICHT GUT ist, wenn man geheimdienstliche Abhöraktionen zum Zweck des Schutzes der Bevölkerung zu weit treibt.

——-

BÖSE ist, wenn Hitler Judenreinheit durchsetzt und einen Krieg vom Zaun bricht, der Ariern mehr Lebensraum auf Kosten anderer Ethnien verschaffen soll.

BÖSE ist, wenn Stalin im Namen der Sowjetunion Millionen von Menschen ermorden lässt, weil sie „im Weg“ sind.

BÖSE ist, wenn man aufgrund einer religiösen Ideologie die Bevölkerung eines ganzen Landes als Geisel nimmt und sie systematisch zurück in die Steinzeit befördert (Taliban, Afghanistan).

BÖSE ist, wenn man aufgrund persönlicher Machtbestrebungen eine ganze Weltregion destabilisiert, 3 Millionen Oppositionelle aus dem Land treibt, foltert, mordet, Kriege anzettelt, mit Giftgas gegen unliebsame Minderheiten vorgeht und schlussendlich etwa 1 Million Menschen getötet hat (Saddam Hussein, Irak).

BÖSE ist es, wenn man eine unterdrückte Minderheit zum Aufstand animiert und dann trotz sämtlicher Möglichkeiten nichts unternimmt, wenn sie massakriert wird (aufgemuntert haben die USA, massakriert wurden die Shiiten im Südirak 1991, 2. Golfkrieg).

BÖSE ist, wenn die UNO aus bürokratischen Gründen kein Mandat zur Intervention im Kosovo erteilt.

BÖSE ist, wenn durchgeknallte Islamisten mit Passagierflugzeugen zwei vollbesetzte Bürohochhäuser in New York pulverisieren.

BÖSE ist, wenn die UNO aus bürokratischen Gründen kein Mandat zum Einmarsch im Irak erteilt.

BÖSE ist, wenn Deutschland sich unter zum Kotzen widerwärtigem moralischen Getue nicht dafür verantwortlich fühlt, den eigenhändig aufgerüsteten Mörder Saddam Hussein vom Thron zu stoßen.

BÖSE ist, wenn man als Regierungschef eines Staates Bürgerrechte aushebelt, freie Medien abschafft, Oppositionelle weltweit ermorden lässt und unter dummdreisten Lügen Landnahmen auf den Territorien anderer Staaten durchführt (Wladmir Putin & his Kreml-Combo).

BÖSE ist, wenn Scharfschützen auf Zivilisten angesetzt werden, um Verwirrung zu stiften und eigene Vorteile in der Gesamtinszenierung zu sichern (Kiew, Ukraine, vermutlich Kreml).

——-

IRRE ist, wenn man Gut und Böse umdreht und das wirklich anfängt zu glauben.

 

Radio Eriwan is back

Frage: Ist es richtig, dass die Bewohner der Krim am morgigen Sonntag frei über den Status der Krim abstimmen können?

Radio Eriwan: Im Prinzip nein. Die Krim wird von Angestellten der kapitalistischen Reaktion und ukrainischen Faschisten von allen Seiten in Schach gehalten. Russische Selbstverteidigungskräfte vor Ort tun ihr Möglichstes, um den schädlichen Einfluss der westlichen Propaganda von den Genossinnen und Genossen auf der Krim fernzuhalten. Eine wirklich freie Wahl mit den üblichen 120% der Stimmen für den Status einer freien sowjetischen Republik ist unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten.

Außerdem lastet nach Auskunft des ehrwürdigen Moskauer Patriarchen Kyrill von Smolensk und Kaliningrad auf der Region ein Fluch: Bereits drei hochmoderne Schiffe der sowjetischen Schwarzmeerflotte sind am Hafenausgang von Sewastopol auf Grund gelaufen und gesunken.

Lasst uns nun gemeinsam singen:

Ехали на тройке с бубенцами,
А вдали мелькали огоньки.
Мне б сейчас, соколики, за Вами,
Душу бы развеять от тоски.

Припев:
Дорогой длинною, да ночью лунною,
Да с песней той, что вдаль летит звеня,
И с той старинною с той семиструнною,
Что по ночам так мучала меня…

Так живя без радости, без муки,
Помню я ушедшие года,
И твои серебряные руки
В тройке, улетевшей навсегда…

Припев
Дни бегут, печали умножая,
Мне так трудно прошлое забыть.
Как-нибудь однажды, дорогая,
Вы меня свезете хоронить.

https://www.youtube.com/watch?v=LVQ3TplZxMA

—————————————-

Frage: Ist es richtig, dass in Moskau heute mehrere zehntausend Menschen auf der Straße waren, um gegen die Aggressivität Wladimir Putins zu protestieren?

Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Es waren genau 97.536 Genossinnen und Genossen, die sich Sorgen um die Gesundheit des Präsidenten machten. In rührender Selbstlosigkeit setzten sie sich dafür ein, dass der viel beschäftigte und stets im Dienste des Volkes handelnde Wladimir Wladimirowitsch 36 statt 30 Urlaubstage im Jahr bekommen soll. Wir haben die persönlichen Daten der Genossinnen und Genossen aufgenommen und werden ihnen als Ausdruck des Dankes der sowjetischen Führung jeweils einen mehrwöchigen Urlaub im hübschen Städtchen Krasnokamensk in der Reiseregion Transbaikalien ermöglichen.

————————————–

Frage: Gibt es derzeit russische Soldaten auf der Krim?

Radio Eriwan: Im Prinzip nein. „Russischer Soldat“ ist ein komplexer Begriff, der nicht einfach beliebig auf Situationen angewendet werden kann, in denen russische Soldaten eine Rolle spielen. Wladimir Wladimirowitsch wird den russischen Soldaten vor Ort stets rechtzeitig bekannt geben, was sie sind.

Russische Version:

Вопрос Армянскому радио: Есть ли в Крыму российские солдаты?

Ответ: В принципе, нет. „Российский солдат“ – сложносоставное понятие, которое нельзя просто применить в ситуации, где российские солдаты играют какую-либо роль. Владимир Владимирович сам своевременно сообщает российским солдатам, кто они такие.

—————————————

Frage: Plant Russland die Annexion der Krim?

Radio Eriwan: Im Prinzip nein. Das ist auch gar nicht nötig. Die russische Halbinsel Krim kann ja ganz frei entscheiden, dass sie ein Teil Russlands ist.

—————————————

Frage: Ist es richtig, dass Wladimir Wladimirowitsch der stärkste Mann der Welt ist?

Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Die Stärke Wladimir Wladimirowitschs ist rund um die Metrostation Chernyshevskaija in Leningrad weltberühmt.

Lassen Sie uns jetzt gemeinsam singen:

Ехали на тройке с бубенцами,
А вдали мелькали огоньки.
Мне б сейчас, соколики, за Вами,
Душу бы развеять от тоски.

Припев:
Дорогой длинною, да ночью лунною,
Да с песней той, что вдаль летит звеня,
И с той старинною с той семиструнною,
Что по ночам так мучала меня…

Так живя без радости, без муки,
Помню я ушедшие года,
И твои серебряные руки
В тройке, улетевшей навсегда…

Припев
Дни бегут, печали умножая,
Мне так трудно прошлое забыть.
Как-нибудь однажды, дорогая,
Вы меня свезете хоронить.

https://www.youtube.com/watch?v=LVQ3TplZxMA