Was ist Erleuchtung? – oder: Die Außenansicht einer Quarkspeise

Felix Hau

Wer von Erleuchtung redet, produziert im besten Fall Literatur. Je mehr man davon spricht, umso sicherer kann man sein, nicht verstanden zu werden. Das Sprechen von Erleuchtung mag zu allem Möglichen führen – zur Erleuchtung führt es meiner Ansicht nach sicher nicht. Ich schreibe trotzdem und dieses Schreiben kann schlecht nur aus einem Satz bestehen. Finden Sie ihn!

 

„Ich verrate euch alles, was ihr tun müsst,
um erleuchtet zu werden:
Setzt euch hin, haltet den Mund,
und fragt euch, was tatsächlich wahr ist.
Fragt es euch so lange, bis ihr es wisst.“

Jed McKenna

 

 

Es klingt wie eine Zumutung, aber das Einzige, was die Realität der Welt verbürgt, ist ihr permanentes Geborenwerden aus einer einzigen und immer gleichen Quelle. Diese Quelle liegt trotz aller Bestrebungen, sie an eine andere Stelle des Flusslaufes zu versetzen – sie im Strom selbst als solche erfahrbar zu machen –, für alle Ewigkeit an dessen Ursprung. Und wenn man sie kennenlernen will, wird man nicht umhin kommen flussaufwärts zu schwimmen: dorthin, wo die Breite abnimmt, die Vegetation karger wird und schließlich nichts von allem mehr da ist, was erst durch ihren Überfluss zustande kommt. Man muss hinter sich lassen, was man sich als Überzeugungen angeeignet hat; man wird alles hinter sich lassen, was man je gewusst zu haben glaubte.

Erleuchtung ist ein Erleben, das die Frage beantwortet, was die Welt im Innersten zusammenhält. Es ist ein Erleben, das alle grundsätzlichen Fragen beantwortet, die man überhaupt über das Woher, Wohin und die Beschaffenheit von Welt und Leben stellen kann.

Erleuchtung ist absolut. Sie erfolgt nicht sukzessive, sie nimmt nicht allmählich oder von Mal zu Mal an Intensität zu, man kann sich darauf nicht vorbereiten und sich auf nichts Bekanntes stützen, um ihrer teilhaftig zu werden. Erleuchtung ist entweder Erleuchtung oder sie ist gar nichts. Ein bisschen Erleuchtung ist nicht zu haben. Man kann unmöglich nur ein wenig den Boden unter den Füßen verlieren. Wenn er weg ist, ist er eben weg – oder er ist noch da. Ich kann das merken: Wenn ich noch auf etwas stehe – und sei es nur auf einer Zehe –, wenn noch Kontakt da ist, ist auch noch Boden da. Dann bin ich nach wie vor Teil der Welt und jenes großen Lebensspieles, dessen merkwürdige und gänzlich überraschende Substanz sich erst in der Erleuchtung selbst erfährt.

 

Erleuchtung hebt alle Traditionen auf

Erleuchtung sprengt das System – jedes System – und führt die diasporische Vielfalt der Welt auf einer anderen Wirklichkeitsebene in seinen sich selbst erlebenden Ursprung zurück.

Das ist auch der Grund, aus dem es vollkommen ausgeschlossen ist, von einer irgendwie spezifischen Erleuchtung im Rahmen bestimmter unter vielen möglichen Traditionen und spirituellen oder religiösen Wegen zu sprechen. Erleuchtung transzendiert jede Beschränkung und alle denkbaren Einzelwege. Sie schnurrt sämtliche als Wirklichkeit oder Möglichkeit bestehenden Weltentwürfe auf jenen einen, zeit- und raumlosen Punkt zusammen, den man nicht dort und auch nicht auf denjenigen Wegen finden kann, wo und auf denen man ihn suchen zu müssen meint: in der ausgedehnten Welt, am „Beginn der Zeit“, im Denken und jedenfalls außerhalb des unmittelbaren, gegenwärtigen Erlebens (dessen Tragweite und Ausschließlichkeit man für gewöhnlich nicht begreifen kann).

Man kann beispielsweise nicht in der Tradition des Christentums erleuchtet werden. Erleuchtung hebt im Augenblick ihres Auftretens alle Tradition auf; darin besteht ihr Wesen. Und das wird auch mit aller Deutlichkeit Erfahrung für jeden sein, der im wahrsten Sinne aus seiner bisherigen Identifikation herausspringt.

 

Erleuchtung ist real; sie begründet Wirklichkeit

Erleuchtung hat nichts mit einer Vorstellung, einem Traum, reinem Denken oder sonst etwas zu tun, das sich innerhalb der Welt, wie wir sie kennen und unter ihren Bedingungen vollzieht. Erleuchtung ist das Selbstgewahren dessen, das allem zugrunde liegt, was man als Mensch in der Welt beobachten, fühlen und auch denken kann. Erleuchtung findet in vollkommenem Wachbewusstsein statt – und zwar bei „geöffneten Sinnen“ – und führt vor allem und in erster Linie zu einer drastischen Änderung der Wahrnehmung der Außenwelt: zu einer Art Umstülpung des bisherigen Koordinatensystems, das der selbstverständlichen Weltbetrachtung innewohnt.

Wenn Rudolf Steiner in seinem Buch Das Christentum als mystische Tatsache über die „Hadesfahrt“ schreibt und dann kommentiert: „Man hat ja selbst gefühlt, wie alle feste Materie, wie alles Sinnliche zu Wasser zerflossen ist; man hatte ja allen Boden verloren. Alles, was man vorher als lebend empfunden hatte, war getötet worden. Wie ein Schwert durch den warmen Körper geht, ist der Geist durch alles sinnliche Leben gegangen; man hat das Blut der Sinnlichkeit fließen sehen“ – und man betrachtet dieses „man hat ja selbst …“, von dem Steiner spricht, als Imagination, so irrt man. Der Hadesfahrer fühlt tatsächlich, er verliert wirklich und er sieht buchstäblich. Natürlich kein Blut, sondern „lebendiges Nichts“ an der Stelle, an der eben noch ein Etwas war. „Dort“ ist man nun selbst; „das Etwas“ hat nicht mehr die magische Macht, eigenes und unabhängiges Sein vorzutäuschen; man umfasst es in seiner nichtigen Präsenz. Und selbstverständlich gilt das auch für den vormals „eigenen“ Körper und die eben noch erfahrene Zentriertheit der Selbstwahrnehmung in einer inselartigen Einzelperson inmitten einer Umgebung: all das ist nicht mehr, was es eben noch war.

Die Welt schnurrt in der Erleuchtung auf einen ewigen Augenblick zusammen, der alles enthält und zugleich nichts ist. Was einen da „anspricht“, wenn man niemand mehr ist, das ist die reine, nackte, jedem Zweifel enthobene Wirklichkeit; es ist die Beschaffenheit der Welt, es ist diese Welt selbst – es BIN ICH, der Einzige, der jemals war und sein wird und doch niemals als solcher in Zeit und Raum existieren kann: Man ist allein.

 

Zwei Perspektiven, unvermischbar

Es ist im technischen Sinn unmöglich, aus diesem, als „non-dual“ nur sehr unzureichend beschriebenen Erleben heraus zu handeln – aus einem ganz einfachen Grund: es ist keiner da, der handeln könnte. Was geschieht, geschieht. Man geschieht.

Die beiden Realitätsebenen – Erleuchtung und ausgedehnte Welt – können aber auch dann, wenn man wieder Einzelner unter Einzelnen ist, nicht miteinander verknüpft werden, weil es sich einfach nur um zwei Perspektiven ein und derselben Angelegenheit handelt; sie sind bereits „verknüpft“ und man produziert bestenfalls interessante Verknotungen, wenn man versucht, die eine Perspektive in der anderen zu verorten. Genauso wenig wie man die Außenansicht einer Quarkspeise als Bestandteil in die Quarkspeise hineinbekommt, kann man Erleuchtung in irgendeiner Weise ins Leben „integrieren“. Nichtsdestotrotz wird Erleuchtung in den wohl meisten Fällen und nach „Rückkehr“ in die Welt der Existenz, in der man wieder jemand ist und etwas gegenübersteht, Anlass für einen fortwährenden individuellen Prozess der Auseinandersetzung mit diesem jeden vorstellbaren Erfahrungshorizont sprengenden Erleben sein. Die Verwandlungskraft ist unvergleichlich; es gibt nichts, das sowohl emanzipatorischer als auch integrativer wirken würde als dieser Vorstoß zur Quelle allen Seins und Werdens.

Erleuchtung als solche führt allerdings zu keinem bestimmten „Ziel“. Es ist eines der größten Missverständnisse anzunehmen, ausgerechnet Erleuchtung ziehe vorhersehbare, quasi-automatische Folgen für die Biographie eines Menschen nach sich, der ihrer teilhaftig geworden ist. Erleuchtung ist Anfang und Ende, Weg, Ziel, alles, nichts – hier und jetzt.

Was der (wieder) Einzelne vor dem Hintergrund dieser Erfahrung mit seinem Leben anfängt, wie er sich verhält, wie er die Erfahrung interpretiert und in seine Lebensführung einbaut, was er daraus für Schlüsse zieht – das alles hat mit dem Erleben als solchem nichts zu tun. Was auch immer die Konsequenzen des Einzelnen sein mögen: sie ändern auch nichts an dem „Inhalt“ des Erleuchtungserlebnisses; es wird für jeden jederzeit immer ganz genau dasselbe sein. Und jeder wird in diesem Erleben auch ganz genau derselbe sein: niemand nämlich. Er wird es nicht persönlich nehmen können. Und er weiß dann, was es heißt, wenn es heißt: „Ich bin bei euch bis ans Ende aller Tage. Ich bin der Weinstock – ihr die Reben. Ich bin die Tür; wer durch mich eingeht, wird gerettet werden.“

 

Die Frage nach dem Sinn: Keine absoluten Ziele

Die diasporische Welt, ihre Endlichkeit, ihre Negation der Ewigkeit, die Vielfalt und Lebendigkeit, das Getrenntsein und das sich Gegenüberstehen von autonomen Einzelwesen ist ein permanentes Weglaufen vor der tödlichen Langeweile eines einheitlichen „Bewusstseins“; das ist ihr Grund und darin liegt ihr Wesen. Das meint der Sufi, wenn er sagt: „Ich war ein verborgener Schatz, und Ich sehnte mich danach erkannt zu werden; also schuf Ich die Welt.“

Es gibt also einen impulsiven Grund, aus dem wir hier sind, aber es gibt kein vorgegebenes Ziel. Die Existenz der Welt hat einen Ursprung, aber keinen finalen Zweck. Ziele und Zwecke sind etwas, das nur innerhalb der Diaspora Gültigkeit hat und Sinn verliehen bekommen kann. Und innerhalb dieser Diaspora sind es viele unterschiedliche Menschen, die dem Leben aus ihrer jeweiligen eigenen Perspektive ein Ziel und damit Sinn verleihen; und dieses Ziel und dieser Sinn: sie leben von der Bezogenheit des jeweiligen individuellen Lebens auf etwas dieses Leben Begrenzendes; sie leben letztlich von der Endlichkeit – von dem Vis-à-vis mit dem Tod.

Es ist ganz einfach: Gott für sich ist totale Langeweile. Es wäre, würde sie existieren können, eine „Lebensform“, die dem Potential nach weit unterhalb des Einzellerniveaus rangiert. Der sogenannte „Sündenfall“ ist der beste (und einzige) Einfall, den Gott je hatte; er ist seine Initiative.

Gott ist es, der sein Für-sich-Sein aufgibt, um mehr Lebensqualität zu erlangen – permanent, in jedem Augenblick. Mehr Lebensqualität erlangt Gott durch seine eigene Zerbröselung in diasporische, aber endliche Weiten, durch sein sich selbst Gegenüberstehen in Form unterschiedlichster Lebensformen und schließlich in Form des selbstbewussten menschlichen Individuums, das im Verkehr mit der Welt und anderen Individuen Erfahrungen sammelt, seine Innenwelt bereichert und sogar selbst schöpferisch tätig werden kann – unter anderem, indem er der vorgefundenen Welt aus seiner eigenen Machtfülle eine geistige Ergänzung und Fortentwicklung bescheren kann, wie sie beispielsweise die Anthroposophie Rudolf Steiners darstellt.

 

Zu guter Letzt: Wie werde ich erleuchtet?

Zur Erleuchtung führen keine üblichen Wege der Vorbereitung oder Übung, weil Übungen etwas sind, das sich in Technik, Zielausrichtung und Erwartungshaltung vollständig im Raster gewöhnlicher Weltsicht – also „im Leben“ – bewegt. Das jedoch, was da passieren soll, kann man schlechterdings nicht erwarten, weil man überhaupt keinen Begriff davon haben kann, bevor man es erlebt. Jede Erwartungshaltung als solche verhindert Erleuchtung.

Was also tun?

Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit: radikalen Zweifel.

Radikal zu zweifeln bedeutet, restlos alles in Frage zu stellen, wovon man überzeugt ist – vor allem die allerselbstverständlichsten Dinge und Sachverhalte des täglichen Lebens. Die beste, da handhabbarste Methode dafür ist, sich selbst unbezweifelbar belegen zu wollen, dass wahr ist, was man für wahr hält. Man muss sich dabei nicht mit Abstraktem und Kompliziertem aufhalten, sondern tut gut daran, beim Naheliegendsten und augenscheinlich Wahrsten zu beginnen, das greifbar ist.

Setzt euch hin, haltet den Mund, und fragt euch, was tatsächlich wahr ist. Fragt es euch so lange, bis ihr es wisst.

 

 

 

Tjargon und der Duft des Veilchens

Tjargon: Ist Erleuchtung ein Erlebnis?

Der Meister: Ja!

Tjargon: Ist es Erleben, so wie wir den Duft von Veilchen erleben?

Der Meister: Nein. Aber diese Verneinung liegt daran, dass wir den Duft von Veilchen nur so zu erleben meinen „wie wir den Duft von Veilchen erleben“. In dem Augenblick, in dem du wirklich den Duft des Veilchens erlebst, existierst weder du noch das Veilchen und auch kein Duft.

Die Wahrheit ist so simpel, dass man sie nicht sieht. Wenn man Veilchenduft erlebt, dann glaubt man, man tue in diesem Erleben etwas Bestimmtes auf eine bestimmte Art und Weise – man tut es aber gar nicht. Es stimmt einfach nicht, was man sich selbst erklärt. Und nur das – ausschließlich das – gilt es zu realisieren. Beim Veilchenriechen, beim sich Unterhalten, beim Laufen, beim Sitzen, beim Lesen: Es ist immerzu dasselbe. Man meint, die Welt sei dort und man selbst sei hier. Und man müsse zu ihr erst in irgendein Verhältnis treten, das den Zwischenraum überbrückt. Aber wo ist er denn, der Zwischenraum? Wo ist das „Dort“?

Und, Tjargon, versuche nicht, das, was vielleicht jetzt geschieht, zu verstehen, bevor es geschieht. Lass es geschehen. Spring!

 

Literaturtipps:

Jed McKenna: Verflixte Erleuchtung. Als Schmetterling unter Raupen. Edition Spuren. 292 Seiten. € 22,-. ISBN-13: 978-3952196694.

Stephen Jourdain, Gilles Farcet: Einsichten eines erleuchteten Kettenrauchers. J. Kamphausen Verlag. 203 Seiten. € 17,80. ISBN-13: 978-3933496393.

Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Reclam Verlag. 237 Seiten. € 6,80. ISBN-13: 978-3150012017.

Christian Grauer: Am Anfang war die Unterscheidung. Info3 Verlag. 109 Seiten. € 13,60. ISBN13: 978-3924391379.

 

Erschienen in Info3 – Anthroposophie im Dialog, Februar 2009.

 

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