Mein Abschied von der Idee des Grundeinkommens

Jahrelang habe ich die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens unterstützt. Ich habe eingestimmt in den Chor derer, die „die Verhältnisse“ beklagen, die zur Verteidigung des Grundeinkommens unbezahlte, aber notwendige gesellschaftliche Arbeit anführen, die darauf hinweisen, dass das Individuum zum Überleben dazu gezwungen ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, statt sich „sinnvollen Dingen“ zu widmen, Tätigkeiten, für die es womöglich eine Berufung empfindet und die es „aus sich heraus“ tun will.

Dann habe ich begonnen mich intensiv mit der Wirtschaftsgeschichte und – das bleibt dabei nicht aus – mit dem Kapitalismus zu befassen, mit jenem wirtschaftlichen System also, das mir für all die oben aufgezählten Unzulänglichkeiten, für all das Unglück und die Unfreiheit des heutigen Menschen in so genannt zivilisierten Staaten verantwortlich zu sein schien.

Und bei dieser Befassung machte ich eine ganz erstaunliche Entdeckung, die nicht zuletzt meine Einstellung zum Thema „Grundeinkommen“ nachhaltig erschüttert und drastisch verändert hat.

Der viel gescholtene Kapitalismus nämlich ist das einzige Wirtschaftssystem, das tatsächlich sozial ist und es ist außerdem dasjenige Organisationssystem von Wirtschaft, das die größte individuelle Freiheit ermöglicht. Alles – und ich meine wirklich: alles –, was man ersinnen könnte, um das wirtschaftliche Miteinander von Millionen oder gar Milliarden von Menschen allgemeingültig zu organisieren, ist im Ergebnis weniger sozial und weniger frei.

Wie komme ich zu diesen – für viele Ohren vermutlich vollkommen absurd klingenden – Behauptungen?

Es ist im Kern ganz einfach erklärt. Der Kapitalismus fußt auf drei Axiomen:

  1. Persönliche Freiheit
  2. Privateigentum
  3. Freier Markt

„Persönliche Freiheit“ meint die Abwesenheit von willkürlichem Zwang, wobei „willkürlicher Zwang“ nicht in schlechtem Wetter, unwirtlichem Gelände, Pech oder ärgerlichen Kausalbeziehungen besteht, sondern gewaltsame Nötigung durch andere Menschen meint. Jedes Individuum soll in der Lage sein, das zu tun und zu lassen, was es will – so lange es dabei nicht in die genau gleich lautende persönliche Freiheit anderer eingreift.

„Privateigentum“: Es soll gelten, dass jedes Individuum Dinge, die es sich unter Berücksichtigung des Axioms der persönlichen Freiheit angeeignet hat, als unangefochten eigene Dinge betrachten darf, über die es selbst die ausschließliche Verfügungsgewalt hat.

Ein „freier Markt“ besteht genau dann, wenn das In-Beziehung-Treten verschiedener Individuen untereinander von persönlicher Freiheit und der wechselseitigen Anerkennung des Privateigentums gekennzeichnet ist. Wo vor diesem Hintergrund und ohne weitere Einmischung Dritter getauscht wird – ganz gleich, was und unter welchen verhandelten Bedingungen –, handelt es sich um einen freien Markt.

 

Im Mittelpunkt: der andere

Kapitalismus ist die weltweit erfolgreichste Bedürfnisbefriedigungs-Einrichtung in der Menschheitsgeschichte. Arbeit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem ist grundsätzlich Arbeit für andere. Nur, wenn ich damit Bedürfnisse anderer Menschen befriedige, werde ich Abnehmer für mein Angebot finden. Und nur, wenn ich sie auf Dauer bestmöglich befriedige, werde ich dauerhaft Abnehmer finden, denn ich stehe im Wettbewerb mit anderen Anbietern, die jene Bedürfnisse ebenfalls befriedigen.

Anders herum betrachtet: Ich habe ein bestimmtes Bedürfnis. Je nach Artung dieses Bedürfnisses – wie viele andere haben es auch, wie aufwändig ist es, dieses Bedürfnis zu befriedigen? – treffe ich im Markt auf gar kein, ein sehr kleines oder ein beinahe unüberschaubar großes Angebot; die Übergänge sind natürlich fließend.

Abhängig von eben jener Artung des Bedürfnisses ist auch der Preis seiner Befriedigung. Das führt dazu, dass Angebote, die ein relativ unkompliziertes Massenbedürfnis befriedigen, wie beispielsweise die notwendigen Grundnahrungsmittel, stets zum einen in ausreichender Menge und zum anderen zum niedrigstmöglichen Preis zu bekommen sind.

Je ausgefallener meine Bedürfnisse sind, umso länger werde ich nach Befriedigung suchen und umso mehr werde ich in der Regel dafür bezahlen müssen – möglicherweise so viel, dass ich mir die Sache, um die es geht, gar nicht leisten kann.

Aber selbst damit muss ich mich nicht abfinden, denn ich habe zwei Möglichkeiten, mein Bedürfnis doch noch zu befriedigen: Zum einen kann ich darauf sparen – übersetzt bedeutet sparen: ich verzichte eine Zeit lang auf die Befriedigung anderer Bedürfnisse, um die Mittel zu erhalten, die mir später zur Befriedigung dieses einen Bedürfnisses dienen –, zum anderen kann ich selbst unternehmerisch tätig werden und Mittel erwerben, die mir dazu verhelfen, das vom Markt nicht befriedigte Bedürfnis selbst zu befriedigen.

Letzteres werde ich – unter der Voraussetzung genügend großer Energie – möglicherweise in zwei Fällen tun: Wenn ich davon ausgehe, mit meinem Bedürfnis eine Marktlücke getroffen zu haben – wenn es also unerkannte Nachfrage nach etwas gibt, das noch gar nicht oder wenig angeboten wird – oder wenn ich der Ansicht bin, dass ich das nachgefragte Gut besser oder billiger bereitstellen kann als die bisherigen Anbieter. Auch in diesen beiden Fällen liegt mein Fokus auf dem Bedürfnis anderer.

Sollte ich mit meinem Bedürfnis der Einzige weit und breit sein, und sollte es sich herausstellen, dass dies vermutlich auch so bleiben wird, dann ist seine etwaige Befriedigung kein wirtschaftlicher Akt mehr, sondern ein Privatvergnügen.

 

Keine Ausnahme: der Arbeitsmarkt

Das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, das sich aus menschlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung ergibt, gilt selbstredend – und auch dann, wenn diese Betrachtung in unseren Zusammenhängen besonders verpönt ist – genau so für den Arbeitsmarkt. Sowohl der Arbeitskraft suchende Unternehmer als auch der diese Arbeitskraft anbietende Bewerber um eine Stelle formulieren in Nachfrage und Angebot jeweils Bedürfnisse: der Unternehmer bedarf eines fähigen und zuverlässigen Mitarbeiters, um wiederum seine Kundennachfrage bestmöglich befriedigen zu können, was ihm schließlich ein Einkommen beschert; der Bewerber möchte eine ihn möglichst befriedigende Tätigkeit ausüben, die ihn in die Lage versetzt, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

So lange niemand den Bewerber daran hindert, selbst ein Unternehmen zu gründen – für den Fall, dass er seine „Arbeitskraft nicht verkaufen“ will (auch wenn es sich als Illusion herausstellen wird, dass dies im Unternehmerfall und selbst im Fall des Aufbaus einer Subsistenzwirtschaft anders sei) – und so lange niemand Drittes in die Verhandlungen eingreift, die Unternehmer und Bewerber um die Bedingungen führen, zu denen das „Beschäftigungsverhältnis“ zustande kommt – kurz: so lange kein willkürlicher Zwang ausgeübt wird –, ist der Arbeitsmarkt keine Ausnahme von der auf Bedürfnisbefriedigung anderer setzenden Regel des Kapitalismus.

Der Kapitalismus ist also sozial, weil er in seinem Kern um die bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse anderer Menschen kreist. Und er dient der Freiheit, weil niemand diese Bedürfnisse oder ihre Befriedigung künstlich beschränkt oder vorgibt.

 

Kritik am Grundeinkommen

In der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens finden sich fatale Denkfehler. Als „menschenwürdig“ wird in der Grundeinkommenstheorie nicht die vorausschauende Eigenverantwortlichkeit des Menschen bezeichnet – also etwa die vorausschauende Handlung, Zeit seines erwerbstätigen Lebens etwas zurückzulegen, um sich später, wenn nötig, eine gute Pflege leisten zu können –; nicht die immense Freiheit der Berufswahl und die Möglichkeit ihrer Veränderung; und auch nicht der Umstand, dass eine erfolgreiche eigene Tätigkeit nur dann möglich ist, wenn sie anderen Nutzen stiftet.

Als „menschenwürdig“ gelten in der Grundeinkommenstheorie ganz im Gegenteil gesellschaftliche Bedingungen, unter denen jeder, ohne jede Rück- und Vorsicht, „wirtschaften“ kann, wie es ihm selbst gerade in den Sinn kommt und ganz gleich, ob sich für sein Angebot irgendwelche Abnehmer finden bzw. was es diesen tatsächlich wert ist. Das „sich selbst verwirklichende“ Individuum in diesem Sinn ist nun aber gerade das unsozialste Wesen, das vorstellbar ist. Und viele davon auf einem Haufen zerstören jede Gesellschaft in kürzester Zeit, weil sie in einem sich ansonsten selbst, frei und vernünftig organisierenden sozialen Organismus die Binnenbezüge zerschneiden und ihn auf diesem Weg atomisieren.

Anders gesagt: Es ist kein Nachteil, sondern ein großer Vorteil und überdies der Motor des Kapitalismus, dass er wirtschaftliche Tätigkeit nur in Bezug zu den Bedürfnissen anderer Menschen ermöglicht. Noch anders und pointiert: Wer Bilder malt, die keiner sehen will, wird sich verständlicherweise auf ein Grundeinkommen freuen, aber er wird hoffentlich keines bekommen.

 

Warum nicht ein Versuch unterhalb der staatlichen Ebene?

Alles, was man an der Grundeinkommensidee positiv finden kann – den Willen zur Förderung persönlicher Freiheit, das behauptete Soziale –, gehört zum Kern des kapitalistischen Wirtschaftens. (Man müsste, um das zu begreifen, nur endlich unterscheiden lernen zwischen Idee und Praxis des Kapitalismus auf der einen Seite und demjenigen, was der persönliche Freiheit beschneidende, regulierende, marktlenkende, einzelnen Akteuren Privilegien verleihende politische Staat daraus jeweils macht, auf der anderen.) Der Kern der Grundeinkommensidee allerdings – die bedingungslose und also aus den Bezügen von Angebot und Nachfrage losgelöste, dauerhafte Gewährung eines Einkommens – wäre als allgemeingültige gesellschaftliche Norm ein Desaster, weil er die Selbstregulation des sozialen Organismus zerstört.

Ganz anders verhielte sich die Sache aber dann, wenn die Idee des Grundeinkommens von einer genügend großen Menschengemeinschaft, aber deutlich unterhalb der Staatsebene, auf freiwilliger Basis versuchsweise realisiert würde. So schwer kann das ja nicht sein, wenn so viele davon begeistert sind. Da wäre insofern keine Gefahr im Verzug, weil das Außenverhältnis dieser Gruppe zur Restgesellschaft nach wie vor auf den kapitalistischen Säulen ruhte und man so in aller Seelenruhe beobachten könnte, wie sich dieses Biotop als gesellschaftlicher Teilnehmer entwickelt: ob es reicher wird oder nicht, ob es zufriedener wird oder nicht, ob es – in sich und nach außen – friedlich bleibt. Ich wage all das zu bezweifeln, aber auf einen solchen Versuch käme es immerhin an.