Ein Wort zu Schuld und Verantwortung in Bezug auf Syrien

Im Frühjahr 2011, als Assad begann die Leute von der Straße schießen zu lassen, war der Konflikt mit Russland noch Zukunft. Das ganze Jahr 2011 über waren die Fronten völlig klar: vom IS noch keine Spur und selbst Al Nusra steckte noch in den Kinderschuhen; sie trat erstmals 2012 in Erscheinung – und dann auch noch längst nicht umfassend organisiert.

Der Westen hatte volle acht Monate Zeit, in einer eindeutigen Lage Partei für diejenigen zu ergreifen, die das Assad-Regime offensichtlich ermordete und den Diktator daran zu hindern. Und es wäre auch lange darüber hinaus noch ziemlich einfach möglich gewesen, Flugverbotszonen einzurichten und die demokratische Opposition zu bewaffnen. First come, first serve: Russland hätte sich damit abfinden müssen.

Zu dem typischen Zögern der Europäer – und insbesondere Deutschlands – kam in diesem Fall tragischerweise auch das Zögern der USA, die den außenpolitisch unfähigsten Präsidenten ever an ihrer Spitze haben.

Dass Russland seinen Verbündeten Assad mit Waffen beliefert, ist allgemein bekannt. Es hat schlicht keinerlei Sinn darauf zu hoffen, dass sich die Kreml-Position ändert. Sie ändert sich nicht; das ist ein Faktum, mit dem der Westen umzugehen hat.

Natürlich ist der Westen nicht schuld an Assads Bomben und an seiner Unterstützung durch die Mullahs und den Kreml. Aber er ist insofern verantwortlich für das syrische Desaster und für die über zwölf Millionen Syrer, die innerhalb und außerhalb des Landes auf der Flucht sind, als es eine Unterlassungssünde ist, ihnen nicht geholfen zu haben, als es noch deutlich problemloser möglich war als jetzt, wo Putin das Ruder übernommen hat, um Assads Macht zu sichern und mit Atom-U-Booten als Abschreckung operiert.

Purer Zynismus ist es, wenn man diese Flüchtlinge nun nicht einmal aufnehmen will.

Ralph Boes: Williger Helfer der Kreml-Propaganda

Seit einigen Tagen zelebriert der Anti-HartzIV-Aktivist Ralph Boes in Berlin ein öffentliches Sanktionshungern. Zum Hintergrund siehe ganz unten, „Zur Vorgeschichte“.

Was mich an dem Theater inzwischen am meisten ärgert, ist diese grenzenlose Naivität (ich unterstelle keine Absicht), mit der Boes sich von der russischen Propaganda-Maschine instrumentalisieren lässt.

Mal angenommen, ich stimmte mit den Prämissen von Boes überein und würde mit meiner öffentlichen Aktion auf die Missstände des Sozialsystems in Deutschland hinweisen wollen: Ich würde Reporter von Russia Today, die über meinen Fall berichten, entweder rausschmeißen oder ihnen vor laufender Kamera ihren überhaupt nicht vorhandenen russischen Sozialstaat um die Ohren hauen, in dem Menschen tatsächlich verhungern, weil es kein sie auffangendes System gibt.

Die Führung eines zunehmend totalitären Staates, der seinen eigenen Bürgern jegliche soziale Sicherheit verwehrt, lässt den deutschen Ableger seines Propaganda-Mediums einen deutschen Aktivisten interviewen, der vergleichsweise alberne Missstände im deutschen Sozialsystem kritisiert. Und Herr Boes macht bei dieser Schweinenummer begeistert mit.

Widerlich.

 

Zur Vorgeschichte:

Ralph Boes und andere gehen davon aus, dass HartzIV in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig ist – vor allem, weil es ihrer Ansicht nach gegen Art. 1 Grundgesetz verstößt (Würde des Menschen). Insbesondere die Sanktionierung – also das Knüpfen der finanziellen Hilfe an (als willkürlich erlebte) Bedingungen und die Streichung der Mittel bei Weigerung bzw. Zuwiderhandlung – wird als illegitim und entwürdigend betrachtet.

Da alle zuständigen Gerichte aber nur innerhalb der HartzIV-Gesetzgebung urteilen, kann man auf normalem Weg nie das ganze System in Frage stellen. Deshalb hat Boes sich so lange Sanktionen eingehandelt, bis er überhaupt kein Geld mehr bekommen hat (er lebt von freiwilligen Spenden), will so darauf aufmerksam machen, dass er nun eigentlich Hungers stürbe und dass genau das doch unwürdig und unmenschlich sei.

Man kann durchaus darüber streiten, ob die Initiative nicht vor dem Hintergrund des Grundgesetzes in der Tat prinzipiell Recht hat – und auch darüber, ob manch Bedingung bzw. Maßnahme in der Tat reine Beschäftigungstherapie ist (die manche Menschen allerdings brauchen).

Ich will aber auch nicht verschweigen, dass ich in diesem Fall dafür plädieren würde, die Debatte komplett offen zu führen; denn auch das Grundgesetz ist ja nur ein System und durchaus hinterfragbar.

Mir geht dieses m.E. völlig unreflektierte Anspruchsdenken der Boes-Initiative jedenfalls dermaßen auf den Senkel, dass mich eine solch tabulose Debatte tatsächlich reizen würde.

„Verschwörungsideologien sind festgeschraubte Denkplaketten der Angst“

Unser Gastautor Paul Klingenberg über den Umgang mit Verschwörungsideologen. Das Spannende: Er war einst selbst einer.

 

Ich bin zwar noch nicht lange in der VAG („Virtuelle anthroposophische Gesellschaft“, eine Facebook-Gruppe – F.H.), aber dennoch in einem zwielichtigen Sinne ein Eingeweihter (auf unterer Stufe 😉 ), was die unheilvollen Verstrickungen zwischen Anthroposophie und Verschwörungsgespinsten betrifft. Die Werke und das Erwirkte Rudolf Steiners, das was er artikuliert und transportiert hat, sind mir meist im Leben begegnet . . . und die Person Rudolf Steiner immer als jemand, dem ich vertrauen kann, bei dem ich zwar innerlich wache Kritik in Bezug auf das Gesagte im Speziellen pflegte, bei dem ich aber nie die misstrauische Abneigung in Bezug auf die Gedankenwelt als Gesamtes empfand, wie es bei Verschwörungstheorien der Fall ist.

Was Verschwörungstheorien anbelangt, kann ich – insoweit der Vergleich statthaft ist, um ein Bild zu haben – darüber sprechen, wie ein clean gewordener Junkie. Ich war einmal sehr verzweifelt, verstand die Welt nicht mehr, war orientierungslos und wusste nicht wohin. Da dockte ich an dem großen undurchsichtigen Virenkonglomerat der Verschwörungstheorien an. Es fing an mit dem Film „Zeitgeist“, der damals in meinem Freundeskreis durch die Runde ging und vermutlich – im Tandemtritt mit dem anderen Einsteigerfilm „Loose Change“ – wohl 30-40% der Hirne meiner Generation darauf vorbereitete, eine lebensfeindliche, ins Wahnhafte und Paranoide hineinreichende, erkaltete Gedankenwelt in sich einzulassen und Wurzeln schlagen zu lassen.

 

Erklärungsnährboden einer ganzen Generation

Ich war elf Jahre alt, als die Twintowers zusammenkrachten. Zwei Jahre später, da war ich dreizehn, verfolgte ich die Fernsehbilder mit, wie amerikanische Soldaten die Husseinstatue in Bagdad umstürzten. Ich ging in eine bilingual geführte Schule mit internationalem Background, in meiner Klasse waren drei Kinder mit amerikanischen Eltern, von denen zwei den Krieg befürworteten. Der Vater eines anderen Klassenkameraden war Iraker. Er gab sich meist von der coolen Seite, war scheinbar abgebrüht. Als wir aber über das zu sprechen begannen, was uns beschäftigte und was wir aus den Medien aufschnappten; – bzw, was wir den Eltern nachplapperten – brach er bitterlichst in Tränen aus. Seine Familie bangte um das Leben seines Onkels. Es war dieses Erlebnis, das mich innerlich traurig darüber stimmte, dass dieser Krieg geschah, und es entfachte eine Empörung, die nichts mit der verbreiteten und letztendlich farblosen Denkschablone „Krieg ist scheiße“ zu tun hatte.

Zu dieser Zeit behandelten wir im Geschichtsunterricht die beiden Weltkriege. Ich wusste zwar, dass da „was Schlimmes“ passiert sei und dass das gar nicht so lange her ist, aber zum ersten Mal hörte ich bewusst von den Materialschlachten, den Grabenkämpfen, von Antisemitismus, dem Holocaust.

All das waren erstmal Erschütterungen und noch keine Schwellenerlebnisse. Verborgen zwar, meist auch von mir selbst unbemerkt – und ich denke für viele andere auch -, schwelte das Bedürfnis nach einer Erklärung, nach einem „deshalb ist das so und so“, was einem das Ungeheuerliche irgendwie begreiflich macht …

Ein Jahr später machte „Loose Change“ die Runde, wo es hieß, dass es die Amerikaner selbst gewesen sein sollen, welche die Türme gesprengt (!) hätten. Die Doku war schlecht gemacht, wirkte aber durch die stakkatoartige Berichterstattung (schnelle Bildwechsel; unruhiges, hastiges, sich selbst überschlagendes Sprechen, ähnlich wie bei Jebsen) überzeugend.
Gleichzeitig wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur besten Sendezeit der Michael Moore Film „Fahrenheit 9/11“ ausgestrahlt, den ich im „Kreise der Familie“ (wie sich das bürgerliche Scheinidyll vor dem Fernseher gerne nennt) ansah.

Ich könnte noch längere Ausführungen machen, aber mir geht es darum, dass in dieser Zeit ein Nährboden geschaffen wurde, für alle diejenigen, die dann, zehn bis 20 Jahre später, als vom Neoliberalismus Unzufriedene und Verhinderte, nach Strohhalmen greifen würden!

Viele von den Leuten, die mit „Loose Change“ und Michael Moore etc. aufgewachsen sind, hören heute noch Xavier Naidoo (und viele andere Rapper), sie sympathisieren aber nicht nur mit seiner Musik, sondern auch mit seinen Ansichten, und ich denke, dass der Verschwörungskarren gerade erst richtig in Fahrt kommt, da seit der Jahrtausendwende systematisch viele Schlaglöcher eingeebnet, Gräben offensichtlicher Widersprüche künstlich überbrückt, Pfade des freien Denkens zu Vorstellungsautobahnen planiert worden sind.

 

Wenn jemand „9/11“ sagt, sagt er meist auch „Fed“ und „Rotschild“

Mir fallen da gerade zwei Parolen ein, die – auch wenn Parolen immer plakativ sind – gut passen. Es geht um ein „Wehret den Anfängen“ und ein „Keine Macht den Verschwörungsideologen“, ähnlich wie es heißt: „Keine Macht den Nazis“.

Ich bin mittlerweile einige Diskussionen mit Leuten, die von Verschwörungstheoritis befallen sind, durch. Sie sind zwar irgendwie auch und ein klein wenig zu bedauern, aber davon nur das Menschliche in Ihnen. In Wahrheit handelt es sich um eine schwerwiegende Besetzung, der kaum beizukommen ist. Mit den Dämonen, die diese Leute besetzen, kann man nicht vernünftig argumentieren, kann man nicht sprechen, es fehlt an Herzenswärme.

Der Vorwurf, die konsequente und ablehnende Haltung gegenüber Verschwörungsideologen sei diktatorisch, faschistoid und ein Denkverbot, ist nicht statthaft. Es ist so: Man bekommt irgendwann einen Riecher dafür, wo etwas faul ist. Wenn jemand „9/11“ sagt, sagt er meist auch „Fed“ und „Rotschild“. Ist das nun eine Pauschalverurteilung? Ja, sie trifft aber in 95% der Fälle zu.

Da ich selbst befallen war, weiß ich wovon ich spreche. Ganz tief und insgeheim denkt man, dass der andere, wenn er nicht der Ansicht ist, dass alles von der neuen Weltordnung gesteuert sei, dass die uns mit Chemtrails besprühen usw., dass der andere dann auch einer von den bösen – und da haben wir wieder das Wort – Widersachermächten ist.

Verschwörungsideologien sind festgeschraubte Denkplaketten der Angst, welche die Loslösung von süßlich-beißenden Ressentiments (wie Sandelholz), effektiv verhindert. Bei mir ging das soweit, dass ich mich, als ich mich in London aufhielt, von den Kameras des CCTV verfolgt fühlte, aber gezielt. Ich erblickte sogar eine in einem Baum versteckte Kamera am Flussufer der Themse; – die Kamera gab es wirklich, das Überwachungssystem auch, aber die ominösen Bösen hinter der Kamera, die ich in paranoid-depressiver Permaangst wähnte, die gab es freilich nicht. Klar, die Welt ist schräg, aber daran sind nicht die Illuminaten schuld!

Ich bin froh, dass ich über Letzteres Gewissheit habe und dass ich diese auch immer selbstbewusster zu verteidigen weiß. Manche Verschörungstheoretiker muss man einfach abwimmeln wie lästige Immobilienmakler, da hilft kein gutes Zureden, da hilft kein Zuhören, denn es gibt da nichts Dialogisches im Sinne Martin Bubers. Da gibt es eigentlich nur: „Wenn Du nicht meiner Überzeugung bist, gehörst Du zu den Bösen.“ Verschwörungstheorien sind Informationen, die sich wie Viren übertragen und als Engramm das Bewusstsein belegen. Sie sind nicht nur menschenfeindlich im Sinne des aggressiven Gerichtetseins gegen alles, was sich unter dem Begriff des „Anderen“ subsumieren lässt, sondern sie zerrütten auch den eigenen Seelenfrieden. In diesem Sinne bringen sie Unheil.

Ein Wahrwort – es stammt nicht von Steiner, sondern von einem nicht gar so wagemutigen Zeitgenossen, nämlich von Karl Popper – begleitet mich schon lange: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“
Daher kann ich in Bezug auf eine konsequent ablehnende Haltung gegenüber menschenfeindlichen Verschwörungsideologien nur sagen: Hut ab und weiter so!

 

Der Autor, Paul Klingenberg, geb. 1991, lebt in Graz und studiert Philosophie. Sein Bezug zur Anthroposophie, sagt er, war immer das Leben und dieser Bezug ist in letzter Zeit immer egoistischer geworden.

Nachklapp zu Jebsen & friends

Um mich völlig verständlich zu machen: Es genügt für Anthroposophen auch nicht, die Jebsens, Gansers, Elsässers, Popps und wie sie alle heißen, einfach im Namen des „freien Geisteslebens“ zu ignorieren – grundsätzlich nicht, aber erst recht nicht, wenn sie chez nous als Wanderprediger der Wahrheit gefeiert werden.

Und dabei geht es nur nachrangig darum, dass diese gesuchte Nähe der Anthroposophie und der Waldorfbewegung immensen Schaden zufügt. In erster Linie geht es um etwas eigentlich Selbstverständliches: um Integrität, um Glaubwürdigkeit und um ein Bewusstsein des Umstandes, was diese Herren mit ihrer perfiden Strategie für ein Desaster – zuerst in den Köpfen und dann, folgend, in der praktischen demokratischen Politik – anrichten.

 

„Israel ist in hohem Masse ein Unrechtsstaat und hat viel von den Deutschen von damals, als sie dran waren, gelernt …“

Das hat gerade ein Mitglied der Facebook-Gruppe „Virtuelle Anthroposophische Gesellschaft“ geschrieben. So lange „in unseren Zusammenhängen“ überzeugt vorgetragene Ansichten wie diese fröhliche Urstände feiern, weil man sich in anthroposophischen Binnendebatten vor dem vernichtenden Urteil der Außenwelt sicher glaubt, macht sich jeder Anthroposoph, der sich nicht klar und deutlich gegen diesen aggressiven Wahn ausspricht, zum Gehilfen der Bauernfänger und zum Anhänger des Ressentiments.

Ich habe langsam gute Lust, diesen ganzen säuselnd vorgetragenen aggressiven Schwachsinn zu sammeln und einem Vertreter der „Lügenpresse“ zu überantworten.

Ein Wort zu Ken Jebsen

„Immer wenn ich auf Youtube aus Versehen
ein Video von Ken Jebsen anklicke,
will ich auf der Stelle Zionist werden.

– Christian Ulmen

 

Ken Jebsen bedient mit seinen perfiden Nahelegungen, haltlosen Andeutungen und raunenden Fragen sowohl in Deutschland als auch insbesondere in der „alternativen Szene“ ohnehin schon in Besorgnis erregendem Ausmaß bestehende Ressentiments: gegen Israel, gegen die USA, gegen die Westbindung Europas, gegen „das Kapital“, gegen einen nicht fehlerfreien, aber seriösen Journalismus (Stichwort „Lügenpresse“).

Er agitiert tief eingebunden in ein Netzwerk aus sattsam bekannten Verschwörungsideologen, die sich ausschließlich wechselseitig und reihum durch Querverweise selbst adeln und bestätigen. Sein möchtegern aufklärerischer Duktus kontrastiert mit dem Irrwitz der vermittelten Inhalte aufs Abenteuerlichste.

Man könnte herzlich über diesen Unsinn lachen, wenn einem nicht immer wieder ausgerechnet Menschen aus der anthroposophischen Szene und der Waldorfbewegung zeigen würden, wie unfassbar anfällig sogar erwachsene, denkfähige Menschen für Propaganda, Lügen, Insinuationen und schlichten Stuss sind. Dass und warum man „chez nous“ auf diese Neigung zu Verschwörungsmythen aller Art, zu neurechten Ideologemen und zur Querfront-Bewegung dieser Tage trifft, hat unser Autorenkollege Ansgar Martins in diesem luziden Artikel auf seinem Blog dargelegt.

In jüngster Zeit wurde Ken Jebsen, der tragischerweise selbst ehemaliger Waldorfschüler ist, mehrfach zu Vorträgen oder Projekttagen an deutschen Waldorfschulen eingeladen. Man weiß nicht so recht, ob von Oberstufenschülern, Eltern oder einzelnen Lehrern. Die Schulen haben bislang ausnahmslos gut und richtig – wenn auch erst auf den letzten Drücker – reagiert, Jebsen wieder ausgeladen und entsprechende Distanzierungen veröffentlicht.

Das ist vollkommen richtig, denn auch Waldorflehrer haben – wie Lehrer überhaupt – u.a. die Aufgabe, ihre Schüler zu schützen und ihnen erst Urteilsfähigkeit zu vermitteln, indem sie ihnen das nötige Rüstzeug mitgeben, das es erlaubt, Wahn von Wirklichkeit, Nahelegung von Hypothese, Propaganda von Meinungsäußerung und facts von fiction zu unterscheiden. Phänomene wie Ken Jebsen stellen Lehrer hier vor neue Herausforderungen.

Und – nein! –, es ist nicht im Dienst von Vielfalt, Ausgewogenheit, Demokratie und freier Meinungsäußerung jeder noch so absurden Meinung ein Forum zu bieten – erst recht nicht vor unvorbereiteten Schülern. Das kann man allenfalls im Rahmen eines „Gegen Menschenfänger“-Projektes machen, in dem man Schüler zuvor gut vorbereitet und ihnen dann Jebsen oder einen der anderen „Wahrheitsritter“ gegenübersetzt. Vielleicht wäre das sogar ein heilsamer Ansatz.

Wenn der Zeitaufwand, der betrieben wird, um Jebsen & friends zu lauschen und ihren ausgelegten Fährten in trübe Gewässer zu folgen, darauf verwendet würde, sich tatsächlich und aus seriösen Quellen zu informieren, wäre in jedem Fall schon viel gewonnen.

Die Deutschen und der Krieg

Gedanken anlässlich des verzweifelten ukrainischen Verteidigungskrieges gegen die Aggression des Kreml – und anlässlich deutscher Reaktionen darauf.

Man rege sich nicht auf, es ist ein typisch deutscher Defekt: Die Deutschen denken bei jenem Krieg, den sie auf der Welt stets vermeiden wollen, immer an ihre Eltern und Großeltern, an deren Freunde und Verwandte in den Luftschutzkellern Hamburgs und Dresdens, statt an überfallene andere Länder, statt an die zig Millionen ermordeter Juden, Sinti und Roma, Homosexueller usw. usf. Sie denken nicht an die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht und der SS, nicht an das Schlachten in deutschen KZs; sie denken an Bomben aus englischen und amerikanischen Flugzeugen. Dieser Krieg, den man in aktueller Stellvertretung jeweils ablehnt, ist der vernichtende Luftkrieg des anglo-amerikanischen Satans, weshalb man diesem Letzteren auch alles Böse und alle Niedertracht zutraut und ihn ewig schuldig spricht – genau so, wie man den Juden nie verzeihen wird, dass sie sich ausgerechnet auf deutschem Boden und von deutschen Herrenmenschen haben abschlachten lassen.

Es hat keinen Sinn, sich darob zu erregen; das ist tief in die kulturelle deutsche Genetik und das tradierte Narrativ integriert; es ist ein Reflex der Schuldabwehr. Man wird noch mindestens zwei Generationen brauchen, bis der Durchschnittsdeutsche wieder klar in die Welt blicken kann. Es ist auch nicht zwingend etwas Persönliches, sondern Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses. Anders ist jedenfalls mir der Irrsinn, der deutsche Münder und Federn regelmäßig zum Thema Krieg und Frieden verlässt, nicht erklärbar.

Diese Perspektivenverzerrung, diese unerträgliche Äquidistanz zu Armeen – ganz gleich, worauf, aus welchem Grund und mit welchem Ziel sie schießen – einerseits, die Blindheit gegenüber stattfindenden Kriegen ohne amerikanische oder israelische Beteiligung andererseits findet ihren Gipfel darin, dass die deutsche Friedensbewegung sich mit ihrem Slogan „Nie wieder Krieg!“ seit Jahrzehnten auf den Schwur von Buchenwald beruft – wahnsinniger geht es nicht.

Der Schwur von Buchenwald ist ein Dokument des Dankes an die alliierten Befreiungs-Armeen und ein solches der Entschlossenheit des Kampfes gegen den aggressiven, Menschen mordenden Nazismus – gegen jeden aggressiven, Menschen mordenden Wahnsinn. Die Schreckensherrschaft Nazideutschlands ist nur durch den alliierten Krieg beendet, seine Ausdehnung nur durch diesen Krieg verhindert worden. Die Slogans „Nie wieder Auschwitz!“ und „Nie wieder Krieg!“ schließen einander im Fall der Fälle kategorisch aus.

Um es einmal mehr mit Wolfgang Pohrt zu sagen:

„… in der Tat hat Deutschland den Pazifismus diskreditiert und ad absurdum geführt, indem es praktisch vorgeführt und damit empirisch bewiesen hat, dass es Schlimmeres geben kann als den Krieg; dass Schrecken möglich sind, von denen nur eine starke Armee befreit. Deutschland selbst unter den Nazis war dieser Schrecken, gegen den es kein Mittel als Bomberflotten und Panzerverbände gab. Die Armee als wirklichen Befreier und den Krieg als wahren Sachverwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit in die Weltgeschichte eingeführt zu haben ist das verhängnisvolle Verdienst dieses Landes.“

 

Zur aktuellen Krise im Nahen Osten: Antwort an einen deutschen Freund

Der folgende Brief stammt von einem Autorenkollegen, einem in Deutschland lebenden jüdischen Anthroposophen, der hier einem deutschen Freund antwortet. – F.H.

Lieber G.,

ich danke Dir für Deine Unterstützung und für Deine Sorgen bezüglich der Situation von uns Juden zurzeit hier in Deutschland. Bitte erlaube mir ein paar Gedanken zu formulieren, die einem Juden, der immer versucht hat und versuchen wird, differenziert auf den Nahostkonflikt zu blicken, in diesem Augenblick der Krise durch den Kopf und durchs Gemüt gehen.

Du schreibst mir, dass ich in meiner Stellungnahme zum aktuellen Konflikt in Gaza einseitig bin. Du hast Recht. Ich habe absichtlich die Schuld und die Verbrechen der Hamas und Konsorten hervorgehoben und meine Kritik an der israelischen Politik und den rechten Scharfmachern zurückgehalten.

Warum?

Weil kaum einer von den deutschen, britischen und sonstigen Gutmenschen bei der Presse und am Stammtisch wirklich klar und deutlich ausspricht, wer es ist, der der Verursacher des Blutvergießens ist, wer die Kinder und die Zivilbevölkerung als Geisel missbraucht, wer sie mit eliminatorischem Antisemitismus indoktriniert und zum Töten der „jüdischen Schweine“ dressiert (übrigens: nicht nur die Hamas; im ganzen Schulsystem, auch unter dem Fatah-Regime, werden Judenhass und Lügenpropaganda betrieben).

Israelkritik – egal ob sie von Juden kommt oder von Nicht-Juden – hat nur dann Legitimität, ist nur dann glaubwürdig, wenn man das tut.

Wo gehen Leute auf die Straße, um gegen die Verbrechen der klerikal-faschistischen Islamisten – die Oppositionelle hinrichten, Schwule verfolgen, Frauen unterdrücken, Kinder als lebende Schutzschilder benutzen und Raketen in Schulen lagern und von Krankenhäusern abschießen – zu protestieren? Stattdessen wird Israel angeprangert.

Gestern hieß es in den Vox-Nachrichten, dass im Zuge des Eingreifens der israelischen Armee im Gazastreifen 600 Menschen, hauptsächlich Zivilisten, ermordet (!) wurden. Entlarvende Worte, die den Israelis die Absicht unterschieben, Unschuldige vorsätzlich umzubringen! Diese Stimmung  in Europa spielt dem islamistischen Antisemitismus in die Hände und ist selbst oft von einem halb-verschämten Antisemitismus gespeist. Das fördert zugleich die verstockte Haltung der israelischen Hardliner, aber auch die Resignation vieler kritischer, friedenswilliger Israelis gegenüber dem besserwisserischen Moralisieren von Europäern, die keine Ahnung haben, was es heißt, vor Ort mit der Situation fertig werden zu müssen.

Wenn Berlin, Zürich oder Paris unter fortgesetztem Raketenhagel leben müssten, wenn Berliner, Zürcher oder Pariser umkreist wären von einer Bevölkerung, wo totalitäre Meinungsführer die Oberhand haben, die riefen: Tod den Berlinern, den Zürchern oder den Parisern – was würden diese Berliner, Zürcher oder Pariser sagen, wenn die ausländische Presse schriebe: dann zieht euch doch aus den Gebieten zurück, die ihr besetzt haltet, um euch angeblich zu schützen. Und wenn Ihr schon zuschlagt, dann bitte mit „gebotener Zurückhaltung“.

Problem nur: aus Gaza haben sich die Israelis zurückgezogen. Und was ist das Resultat? Eine ganze Bevölkerung in Geiselhaft einer faschistoiden, islamistischen Bande, die die israelische Bevölkerung unter monate-, wochen-, jahrelangem Raketenhagel hält. Israel hat sich lange zurückgehalten! Und wie bitte soll jene dauernd beschworene „Zurückhaltung“ bei einer akuten militärischen Intervention konkret eigentlich aussehen – angesichts der oben genannten perfiden Methoden einer asymmetrischen Kriegsführung? Das hat mir noch keiner erklären können!

Ich habe also bewusst einseitig geschrieben, weil ich das erwarte, bevor ich bereit bin, über Rücksichtslosigkeiten der Israelis zu sprechen, über Rassismus in Israel, über Großisrael-Ideologien, über schleichende Verrohung, Mangel an Mitgefühl für die Opfer in Gaza bei manchen Israelis und der drohenden Erosion demokratischer Grundwerte. Ich verabscheue Fanatismus, egal von wem er kommt.

Einseitige, propagandistische Parteinahme für Israel seitens bestimmter Gruppen oder Autoren da, wo auch  Kritik an Regierungsentscheidungen angebracht wäre, ist mir oft peinlich und das bloße Schulterzucken über „Kollateralschäden“ halte ich für herzlos, fahrlässig und gefährlich. Aber die Einseitigkeit der meisten Israelkritiker und die Stimmung, die erzeugt wird, veranlassen mich – jedenfalls im Augenblick dieser akuten Krise – bewusst so Stellung zu nehmen, wie ich es tue.

Hamas kämpft einen aussichtslosen Kampf auf dem Schlachtfeld. Das wissen sie. In Wirklichkeit ist es unter anderem ein Propagandakampf, den sie schlau in die westlichen Medien und in die westliche Öffentlichkeit hineintragen, und viele fallen darauf herein. Ziel erreicht!

Als Jude schäme ich mich über Manches, was Juden oder Israelis sagen oder tun. Als Europäer schäme ich mich, wie in Europa über die Gewichtungen in dem Konflikt gesprochen wird. Ein Jude hat immerhin die Ausrede, dass es ihm ums schiere Überleben geht. Als Europäer hat man solche Ausreden nicht. Und so edel es dann klingt, wenn man den Antisemitismus, der sich auf den Straßen der europäischen Hauptstädte zurzeit wieder dreist kundtut, verurteilt: es ist nicht damit getan.

Denn das, was Hamas und andere Islamisten antreibt, ist Antisemitismus – militant, fanatisch, eliminatorisch. Verurteile ich ihn hier, muss ich ihn auch dort verurteilen. Und zwar rückhaltlos und nachhaltig.

Wenn das klar und unmissverständlich getan ist, dann ist es angebracht, Kritik an Versäumnissen oder problematischen Entscheidungen der israelischen Regierungen zu üben,  Bestürzung über einen grassierenden Nationalismus und Rassismus bei einem Teil der israelischen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen usw.

Vielleicht sollten wir alle – Juden und Nicht-Juden, die nicht vor Ort leben, aber den ungeheuren Schaden an Leibern und Seelen aller Menschen dort einigermaßen mitbekommen – im Augenblick am besten eines tun: schweigen und beten. Wenn die Gewichtungen der wirklichen Verhältnisse aber verzerrt dargestellt und unreflektiert weitergegeben werden, wie es der Fall ist, muss man sie zurechtrücken.

Mit freundschaftlichem Gruß
J.

 

Euromaidan

Als ein verspäteter Herbst 1989 wurden die Ereignisse in Kiew und anderswo verschiedentlich bezeichnet. Ein Sammelband aus dem Suhrkamp Verlag hält nun wesentliche Züge der Ereignisse für die Nachwelt fest.

Zu den besonderen Merkwürdigkeiten des öffentlichen Diskurses über die Ukraine in Deutschland gehört der Umstand, dass dabei kaum Ukrainer zu Wort kommen. Wer Debattenbeiträge in Zeitungen und Magazinen verfolgt, wer eine der zahlreichen Talkshows zum Thema einschaltet, wird dort immer mehr oder minder sachkundige Menschen aus Deutschland und aus Russland finden – Ukrainer aber tauchen kaum jemals auf. Das ist nicht nur einfach merkwürdig, es ist im Grunde empörend und bereits symptomatisch für die deutsche Befassung mit der jüngsten ukrainischen Revolution.

Dankenswerterweise ist diese Ausgrenzung der Betroffenen, das Über-ihre-Köpfe-hinweg-Urteilen mit dem Erscheinen des Buches Euromaidan im Suhrkamp-Verlag nun zu Ende: Hier bekommen Ukrainer endlich eine Stimme. Es sind hauptsächlich Vertreter der jungen Generation unter 40, aus der Kunst- und Literaturszene des Landes zumeist, die selbst auf dem Maidan den Winter verbracht, die aufbegehrt, die gelitten, die schließlich gekämpft, um erschossene Freunde geweint, zwischenzeitlich die Welt nicht mehr verstanden und dennoch durchgehalten und niemals die Hoffnung verloren haben.

Das Buch wurde unter dem Lektorat der Doyenne der deutschen Osteuropa-Literatur, Katharina Raabe, herausgegeben und entstand in den Monaten Februar und März, also genau zu jener Zeit, als die Lage erst auf dem Kiewer Maidan, dann auf der Krim eskalierte. Katharina Raabe führt dazu in ihrem Nachwort aus: „Der thematische Fokus hat sich während der Entstehung des Buches mehr und mehr auf Russland verschoben. Der Aufstand im Nachbarland bedeutet eine elementare Bedrohung der Herrschaftsform Putins, und die Kremlpropaganda tut alles, um die Revolution in Kiew als faschistischen Putsch zu verunglimpfen.“ Dass sie das nicht war, weiß die Welt spätestens seit den ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai. Die Kandidaten von Svoboda und Rechter Sektor – jener beiden Parteien also, vor deren Wirken uns das halbe intellektuelle Europa seit fünf Monaten in direkter Übernahme der Putin’schen Propaganda warnt – kamen zusammen auf etwas mehr als lächerliche 2%. Gut, es handelte sich hier um Präsidentschaftswahlen und bei denen werden einzelne Kandidaten gewählt. Bei den angekündigten Parlamentswahlen werden beide Parteien vermutlich einige Stimmen mehr bekommen. Aber auch das wäre noch lange kein ausreichender Grund, die ukrainische Protestbewegung als rechtsradikal zu diffamieren; nach einem faschistischen Aufstand riecht hier gar nichts.

„Euromaidan“ – das war zunächst die von Mustafa Najem initiierte, relativ kleine und junge Demonstrantenschar, die auf dem zentralen Platz in Kiew dagegen aufbegehrte, dass der damalige ukrainische Präsident Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der EU nun doch nicht unterzeichnen wollte. Das damit ausgedrückte Signal zum „weiter wie bisher“ – mit all seiner mangelnden Rechtsstaatlichkeit, seiner Korruption, seiner Perspektiv- und Zukunftslosigkeit für das große europäische Land – war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Ich gehe auf den Maidan. Wer kommt mit?“, schrieb der junge ukrainische Journalist im November 2013 auf Facebook und einige Hundert folgten seinem Beispiel. Aus der kleinen, aber hartnäckigen Bewegung, die sich vornahm, so lange auf dem Maidan zu bleiben, bis das Regime sich zu einer Reaktion genötigt sieht, wurde nach den wiederholten, brutalen Versuchen der Sicherheitskräfte, den Platz zu räumen, schließlich und völlig unverhofft eine landesweite Protestbewegung, an der zu den Hochzeiten mehr als 1 Million Ukrainer teilnahmen. Nicht nur auf dem Kiewer Maidan – auch von West bis Ost, von Nord bis Süd: überall in der Ukraine versammelten sich Menschen aller Schichten und jeden Alters auf den Plätzen ihrer Stadt. Mittelpunkt des Geschehens blieb natürlich trotzdem Kiew. Und rund um den Kiewer Maidan kam es zwischen dem 18. und dem 20. Februar auch zu jenen dutzendfachen, gezielten Morden durch Scharfschützen, die die Welt erschütterten.

Die einzelnen im Euromaidan-Buch versammelten Beiträge berichten von den äußeren Geschehnissen, erläutern die fatalen politischen Strukturen in einem korrupten, post-sowjetischen Staat und geben nicht zuletzt auch einen Einblick in die verwundeten, aber nicht zerstörten, sondern an Herausforderungen und Leid gereiften Seelen der Autorinnen und Autoren. Zwei der Texte seien hier besonders hervorgehoben:

Jurko Prochasko, Germanist, Essayist und ausgebildeter Gruppenanalytiker, setzt sich unter anderem – ohne Wut, aber in umso treffenderer Analyse – mit der abwartenden, ambivalenten, bisweilen aber auch ablehnenden und absurden Haltung der Europäer und insbesondere der Deutschen zur jüngsten ukrainischen Revolution auseinander. Er schreibt: „Zusammengefasst lauten die Behauptungen wie folgt: Die Revolution kam nicht aus dem spontanen inneren Impuls der ukrainischen Bürgergesellschaft, sondern wurde von außen finanziert und gesteuert. ‚Außen’ – das ist ‚der Westen’, konkret: ‚die USA’. Diese Hypothese steht in einer alten Tradition und reproduziert verdrängte eigene koloniale Reflexe. Antiamerikanismus liiert sich mit schlecht versteckter Arroganz: Länder wie die Ukraine sind nicht in der Lage, etwas Eigenes hervorzubringen, weder einen Staat noch eine vernünftige Politik, noch eine solide Wirtschaft, nicht einmal eine akzeptable Revolution. Wenn es dennoch passiert, waren ‚richtige Mächte, richtige Mächtige’ (also auch wir) am Werk. (…) Das erklärt die Bereitschaft, sich mit den schlimmsten Thesen der antiukrainischen, konterrevolutionären russischen Staatspropaganda zu identifizieren. Alles Ukrainische als plump, unfähig, elend und grotesk, bestenfalls mitleiderregend darzustellen hat eine lange russisch-imperiale Tradition, die sich offenbar blendend in den Kanon der postimperialen europäischen Vorurteile übersetzen lässt.“

Kateryna Mishchenko, freie Autorin, Übersetzerin und bis vor Kurzem Herausgeberin des ukrainischen Kulturmagazins Prostory, berichtet über die Versuche des alten Regimes, den Maidan zu diskreditieren: „Nach Janukowytschs Flucht wurde der Plan des Geheimdienstes über die ‚Zersetzung des Euromaidan’ veröffentlicht: Geheimdienstagenten sollten in alle politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen eindringen, die den Maidan stützten – Swoboda, UDAR, Batkiwschtschyna, Demokratische Allianz, die Selbstverteidigung des Maidan und verschiedene NGOs. Spione sollten die Aktivisten von der Sinnlosigkeit ihres Protestes überzeugen und dazu bewegen, nach Hause zu gehen, sie sollten vorsichtig die Regierung loben und die Oppositionsparteien der Passivität und Hinterziehung von Spenden für den Maidan bezichtigen. Es gab in dem Plan auch einen gesonderten Punkt zu mobilen Einsatzgruppen, die Schlägereien provozieren sollten (…) Der Geheimdienst organisierte sogar Proteste ‚unzufriedener Kiewer Bürger‘. (…) Das Unheimliche im Großen zeigte sich, als die ukrainische Revolution als faschistischer Putsch bezeichnet wurde. Wenn die Propaganda dermaßen brutal lügt, dass man vor lauter Verzweiflung nur noch schreien kann, zeigt sich der Horror in seiner ganzen Unaussprechlichkeit.“

14 Autorinnen und Autoren sind es, darunter auch eine Russin, ein Pole und drei Osteuropahistoriker (aus Österreich, Deutschland und den USA), die in dem Buch „von einem Land im Umbruch, vom Aufruhr in den Seelen – und von einer historischen Chance für Europa“ erzählen, wie es treffend auf dem Buchrücken heißt.

Es bleibt zu hoffen, dass die Ukraine nach den erfolgreichen Präsidentschaftswahlen in der näheren Zukunft zur Ruhe kommen und sich den mannigfaltigen Aufgaben widmen kann, die noch vor ihr liegen. Der Euromaidan jedenfalls macht Mut. Und er lässt mit seinem überwältigenden demokratischen und einigenden Erfolg auch hoffen, dass es dem Aggressor in Moskau nicht gelingen wird, das Land weiterhin zu destabilisieren.

Alles Gute, liebe Ukrainer, lasst euch nie wieder entmutigen – Slawa Ukrajini!

Juri Andruchowytsch (Hg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. edition suhrkamp, Mai 2014. 207 Seiten, ISBN 978-3-518-06072-8, 14,00 Euro.

Gekürzte Version erschienen in der Zeitschrift Info3 – Anthroposophie im Dialog, Ausgabe Juli/August 2014.

Kreml-Notizen (1)

Es gab offenbar ein letztes kleines Zeitfenster – von Ende 1998 bis Ende 1999 -, in dem tatsächlich die Weichen der Weltgeschichte hätten anders gestellt werden können.

Im November des Jahres 1998 tritt Alexander Litwninenko mit weiteren FSB-Offizieren im russischen Fernsehen auf und enthüllt die Korruption und das eiskalte Morden des russischen Geheimdienstes. Eine Sensation. Die Seilschaften sind brüskiert, nervös und erstmals seit ihrer Existenz ins Mark getroffen — und hätte es damals einen breit angelegten öffentlichen Protest gegeben, dem womöglich schlussendlich das Militär beigetreten wäre: Es wäre eine echte Chance gewesen, dem wahnsinnigen Treiben der russischen Macht-Elite ein Ende zu setzen.

Sie wurde nicht ergriffen.

Vier Monate später, im März 1999, hat der Geheimdienst wieder zu seiner Routine zurückgefunden und verhaftet Litwinenko. Noch immer besteht aber die Möglichkeit, den todesmutigen Schritt der Rebellen in eine fundamentale Änderung der russischen Politik zu überführen. Der Strafprozess beginnt; der Richter spricht Litwinenko schließlich im November frei (das waren noch Zeiten; heute unvorstellbar!). Noch im Gerichtssaal wird er wiederum verhaftet, weil der Geheimdienst den Freispruch nicht akzeptiert. Die letzte Chance für die Bevölkerung, durch Massenproteste etwas zu verändern. Sie wird wieder nicht ergriffen. Das ist das Signal für das ehemalige KGB-Geflecht, dass die unumschränkte Macht wiederhergestellt ist.

Liwinenko wird kurze Zeit inhaftiert, dann freigelassen. „Wir töten dich ohnehin“, wird ihm beschieden. Die Verhaftung richtete sich nicht gegen ihn, sondern war bereits, ganz der Tradition verpflichtet, eine Warnung an alle anderen, die nun dabei zusehen können, wie es einem „Verräter“ ergeht.

Litwinenko flieht 2000 – ein weiterer Prozess wurde anberaumt – nach London. Dort widmet er sich in den Jahren, die ihm bleiben, der Kommentierung der Kreml-Politik (u.a. der Vergiftung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko) und der Recherche bezüglich der inszenierten Tschetschenienkriege des Kreml. Er befreundet sich mit Anna Politkowskaja, die als kritische Journalistin der Novaya Gazeta in Moskau ebenfalls an diesem Thema arbeitet. Der auch nach London geflohene Oligarch Beresowski unterstützt beide.

Anna Politkowskaja untersucht die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater anno 2002. Anfänglich kritisiert sie nur die Methodik der „Befreiung“, bei der 129 Geiseln starben und offenbar alle Geiselnehmer per Kopfschuss hingerichtet wurden, obwohl sie betäubt und wehrlos waren. Irgendwann findet sie heraus, dass einer der Geiselnehmer das Theater verlassen konnte und FSB-Agent ist. Und sie publiziert das – in der Erwartung, dass nun ein Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung losbricht.

Er bricht nicht los. Stattdessen wird Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 – es ist Putins 54. Geburtstag – vor dem Lift zu ihrem Appartement erschossen. Sie hatte zuletzt an einem das russische Militär und den geheimdienst kompromittierenden Artikel über Tschetschenien gearbeitet.

Litwinenko – ein KGB-bestätigter Top-„Spürhund“ – beginnt umgehend mit Recherchen zu ihrem Tod. 25 Tage später wird er von einem ehemaligen Kollegen in London mit Polonium-210 vergiftet und stirbt am 23. November. Erst an diesem letzten Tag seines Lebens finden die Ärzte die Polonium-Spur; er hatte keine Chance zu überleben.

Am Abend vor seinem Tod diktiert er seinem Vater einen offenen Brief als Vermächtnis:

„Während ich hier liege, höre ich in aller Deutlichkeit die Flügel des Todesengels. Möglicherweise kann ich ihm noch einmal entkommen, aber ich muss sagen, meine Beine sind nicht so schnell, wie ich es gerne hätte. Ich denke deshalb, dass es an der Zeit ist, ein oder zwei Dinge dem Menschen zu sagen, der für meinen jetzigen Zustand verantwortlich ist. Sie [Putin] werden es vielleicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen, aber dieses Schweigen hat einen Preis. Sie haben sich als so barbarisch und rücksichtslos erwiesen, wie Ihre ärgsten Feinde es behauptet haben. Sie haben gezeigt, dass Sie keine Achtung vor dem Leben, vor der Freiheit oder irgendeinem Wert der Zivilisation haben. Sie haben sich als Ihres Amtes unwürdig erwiesen, als unwürdig des Vertrauens der zivilisierten Männer und Frauen. Sie werden es vielleicht schaffen, einen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber der Protest aus aller Welt, Herr Putin, wird für den Rest des Lebens in Ihren Ohren nachhallen. Möge Gott Ihnen vergeben, was Sie getan haben, nicht nur mir angetan haben, sondern dem geliebten Russland und seinem Volk.“

Es gibt ein paar Medienberichte und ein bisschen Aufregung, aber alles legt sich schnell wieder. Und es gerät allzu schnell in völlige Vergessenheit.

Als 2013 der Oligarch und Förderer Politkowskajas und Litwinenkos, Boris Beresowksi, überraschend im Alter von 67 Jahren in seinem Londoner Hochsicherheits-Exil stirbt, sind die beiden Morde schon zu lange her. Es kann auch nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob Selbst- oder Fremdverschulden vorliegt. Die Öffentlichkeit schweigt abermals.

Quellen:
Anna Politkowskaja: Russisches Tagebuch
Andrei Nekrasov: Rebellion – The Litvinenko Case

Nachtrag zum perfiden Spiel:

Beresowski starb im März 2013. Im Juli 2013 wurde in Moskau der Mord-Prozess in Sachen Politkowskaja neu aufgerollt. Der angebliche Schütze und seine Mittelsmänner wurden präsentiert. Ein ehemaliger Polizist, der angeblich in den Fal verwickelt sein soll, verwies – ohne jeden Beleg – auf den Auftraggeber im Hintergrund: Boris Beresowski soll für den Mord 2 Millionen Dollar gezahlt haben.

http://tablet.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/Politkowskaja-Mordfall-erneut-vor-Gericht;art16698,7593160 

Journalismus im Angesicht des russischen Irredentismus‘

Obwohl die deutschen Medien sich zu weiten Teilen eher zurückhaltend, um nicht zu sagen: russlandfreundlich positionieren, hagelt es tausende Zuschriften und Protestbriefe, die die Parteinahme für den Westen und die Unausgewogenheit der Berichterstattung und Diskussion kritisieren.

Ein echtes Problem des Journalismus‘ generell ist, dass es Situationen geben kann (und ich fürchte, dass wir in diesem Fall den Anfang einer solchen beobachten), in denen Medien aus bestem Wissen und Gewissen gegen „das Volk“ anschreiben. Für dieses Problem gibt es meines Wissens nach aber keine echte Lösung. Denn entweder untergräbt man die eigene Existenz oder man untergräbt die eigene Integrität.

Bislang kannte ich das Problem nur theoretisch. Jetzt, wo es ansatzweise praktisch zu werden droht, stelle ich meine grundsätzliche Abneigung gegen Medienkonzerne auf den Prüfstand. Denn letztlich werden sie die einzigen sein, die es eine gewisse Zeit lang durchhalten können, nötigenfalls gegen die eigene Leserschaft anzuschreiben.